VII, Verschiedenes 11, 1906–1909, Seite 12

1. Miscellaneous
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gefordert wird, zehn gute Bücher zu nennen, wird natürlich jene zehn
Bücher nennen, die er für die besten hält — oder zu halten vorgibt
—, und den Snob möchte ich kennen, der außer den fünf Büchern
Mosis die verlangte Serie raufs Geratewohl aus dem Armel schütteln¬
könnte und nicht vielmehr in angestrengtem Nachdenken sich die Ver¬
antwortung vorhielte, vor der aufhorchenden Welt eine Geschmacks¬
prüfung zu bestehen. Natürlich wird der exotische Klang eines Namens
mehr als die erkannte Qualität eines Werkes die Antwort des Kandidaten
bestimmen. Welche Verlockung für die Preziösen! -Lafcadio Hearn¬
ist eine Trouvaille! Herr v. Hofmannsthal hat mit einem längeren
Artikel zugegriffen. Und es ist ja recht hübsch, ihn in einer Verbin¬
dung Goethescher und lateinischer Prosa sich vervollkommnen zu sehen:
-Brief an den Buchhändler Hugo Heller. (Klingts nicht aus einem
Weimarer Posthorn?) Geehrter Herr! Ich wüßte nicht, wie man seinen
Beifall dem versagen sollte, was Sie sich vorsetzen und in Ihrer Zu¬
schrift mir entwickeln. Daß der Buchhändler eben noch nichts Rechtes
ist, wenn er sichs genug sein läßt, ein Händler mit Büchern zu sein,
ist in älteren und neueren Zeitläufen ausgesprochen worden und lebt
wohl als eine rechte Standeswahrheit und Uberlieferung unter den
Tüchtigsten Ihrer Berufsverwandten.: Aber Herr v. Hofmannsthal war
gewiß wie kein anderer berechtigt, die Frage nach den zehn Büchern
zu beantworten. Er ist ja einer der feinsten Leser, die es in der
deutschen Literatur gegenwärtig gibt. Und gesteht selbst: -Ich bin,
wie jeder, vielen Büchern vieles und einigen fast alles schuldig,
was ich geistig besitzes. Nun, ich könnte mir auch einen großen
Lyriker denken, der wiederum so ehrlich wäre zu bekennen, daß er
Büchern gar nichts verdanke, daß er Bücher überhaupt nicht lese. Hätte ich
die Anfrage erhalten, ich hätte die zehn schlechtesten Bücher genannt und
geschrieben, daß sie mir als Erfüllung des eigentlichen Lesezwecks, als
Unterhaltung des Pöbels, gerade empfehlenswert schienen. Die zehn
guten Bücher aber hätten die Verfasser für sich selbst geschrieben. Und
was dazwischen liegt, sei die Langeweile. Oder es sei so geartet, daß
ein Leser mit eigenem Hirn an jedem Satze selbsttätig fortarbeite, bis
er an dem Wettlauf der mittelbaren und der unmittelbaren Eindrücke er¬
müde. So ergehe es mir zum Beispiel mit der meisten Epik, neben deren rein
mechanischer Lektüre eine so intensive Vorstellungsarbeit sich entwickle,
daß mir regelmäßig schon nach den ersten Seiten der Schlaf das Buch
aus der Hand nimmt. Zehn Bücher, die mich in wachem Zustande
unterkriegen, könne ich nicht saufs Geratewohl aus dem Armel
schüttelne. Die Odyssee und Milton's Verlorenes Paradies seien nicht
darunter, auch nicht Thomas a Kempis und Spee’s Trutznachtigall, nicht
einmal die Gedichte des Grafen Rudolf Hoyos. Vielleicht aber eines
(das keiner der Befragten nennt): Edgar Poe’s Skizzen.