VII, Verschiedenes 11, 1906–1909, Seite 18

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vom
Sittlichkeitseiferer.
Ueber Betreiben einzelner klerikaler Mucker
hat die Wiener Polizeisin den letzten Tagen eine
Razzia auf Kunstwerke veranstaltet. Die Nacktheir
in der Malerei war verpönt und Lukas, Cra¬
nach, Tizian wie Rubens mußten es büßen,
daß sie das Höchste in der Kunst, die Schönheit des
menschlichen Körpers, im Bilde dargestellt hatten.
Die Indeüpresse fand sich zur unwillkommenen
Verteidigung der Kunstauffassung und überschüttete
gleichzeitig mit Hohn und Spott die Fehlgriffe
der Polizei. Die Angelegenheit reizt zum Nach¬
denken. Müssen denn die guten Deutschen sich
immer wieder die Begriffe Freiheit und Sittlich¬
keit von den Preßhebräern auseinandersetzen lassen,
ist es denn notwendig, daß letztere mit ihrem
Aufwand von orientalischer Dialektik die täppischen
Anschauungen einiger Deutschen mit einem Schein
von Recht geißeln? Wäre es nicht klüger, man
sondere die Begriffe Nacktheit und Sinnlichkeit
etwas strenger, die nicht immer identisch sein
müssen. Gott hat das erste Menschenpaar ohne
Feigenblatt geschaffen und es fühlte sich im
Paradiese glücklich. Erst mit der Sünde kam die
Erkenntnis und vertrieb die Reinheit. Vor der
klassischen Nacktheit, die sich nur mit der Dar¬
stellung des Schönen an und für sich beschäftigt,
braucht weder der Jüngling noch die Jungfrau zu
erröten und es ist nicht notwendig, dort, wo kein
sinnliches Verlangen, kein gemeiner Trieb sich
außert, eine Interpretation zu geben, die erst all
diese Gefühle wachruft.
Anders aber steht es mit der berechnenden
Darstellung des Nackten, jener Afterkunst, die
direkt darauf ausgeht, die niederen Instinkte zu
wecken.
Die geputzten Varietedämchen in ihren prall¬
sitzenden, tiefausgeschnittenen Röcklein, die Erotik
moderner Salomen, die Kokotten des Pschütt und
kleinen Witzblattes, deren Linienführung immer
nur auf die Freuden der Geschlechtlichkeit hin¬
weist, wurden nicht beschlagnahmt, aber der
nackte Körper eines Tizianischen Weibes sticht der
Polizei in die Augen. Wir sollten denn doch nicht
so muckerisch sein, um der Judenpresse Anlaß zu
geben, sich über die deutsche Dummheit zu entrüsten
und mit der Verteidigung der wahren Kunst auch
die Paßfreiheit für die zeichnerischen Exzesse des
„Pschütt“ und der „Karikaturen“ des „Kleinen
Witzblattes“ und der sogenannten Aktstudien, die
zur für Künstler bestimmt sind, zu erwerben und
den entarteten schriftstellerischen Werken eines
Axtur Schnitzler und seiner Kollegen Eingang
zukverschaffen.
Das Sittlichkeits= wie Freiheitsempfinden der
Söhne Israels ist weit entfernt von dem der
Deutschen. Schaffen wir unserer Freiheitsauf¬
fassung, unserer Anschauung über Kunst und
Natur mehr Geltung und wir werden uns von
den Juden nicht belehren lassen müssen, daß wir rück¬
schrittlich gesinnt seien und daß in der Kunst
Cranachs, Tizians und all der großen Maler und
Bildhauer nichts anstößiges enthalten ist. Wir
werden dann aber auch der niederen, spekulativen
Sinnlichkeit des Judentums ausweichen. Wenn
die Polizei Jagden auf unsittliche Bilder und
Bücher machen will, dann möge sie die porno¬
graphischen Wiener „Kunst"=Blätter und die
pikanten Ansichtskartenserien verfolgen, sie möge
im Wiener=Verlag und in den Tabak=Trafiken
all die billigen, auf schlechtem Papier gedruckten
Schundbücher beschlagnahmen, die auf der Straßen¬
bahn so manch fromme und unfromme Fahrgäste
verstohlen lesen.