VII, Verschiedenes 11, 1906–1909, Seite 30

box 41/2
iS C
1########
Enquete zur Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten.
Zu Beginn der gestrigen Sitzung gab Vor¬
sitzender Prof. Finger ein kurzes Resumée
üiber die Ergebnisse der Enquete hinsichtlich der
Verbreitung der Geschlechtskrankheiten.
Lohn= und Wohnungsverhältnisse.
Hofrat Prof. Dr. Philippovich beleuchtete
die düsteren Lohn= und Wohnungsverhältnisse
der armen Volksschichten. Die Lohnverhältnisse
der Frauen erreichen oft ein so tiefes Nweau,
Pereee
###.7 Ein Brief Arthur Schnitzlers.
Vom Schriftsteller Arthur Schnitzler lag
folgendes Schreiben vor:
1. Antwort auf die Frage, inwiefern Werke
der Literatur und Kunst sexuell zu irritieren ver¬
mögen: Ob ein Jüngling von der tizianischen
Venus fortgeht und sich eine Stunde darauf bei
einer Prostituierten oder einem anderen weib¬
lichen Wesen infiziert — oder ob er mit seiner
Geliebten oder seiner Frau unter der Nachwirkung
desselben Reizes einen neuen Shakespeare zeugt
oder seinen eigenen Mörder, das ist schließlich
nur eine Glücksfrage. Und zweifellos kann jede
dieser Möglichkeiten eintreten, auch wenn es nicht
die tizianische Venus war, der jener Jüngling
seine Erregung verdankt, sondern eine völlig
kunstfremde Aktphotographie oder irgendeine
obszöne Darstellung. Sicher aber ist es, daß pro¬
zentual die sexuell irritierenden Bildwerke und
Druckschriften, sowohl künstlerischer als unkünst¬
lerischer Natur, den vielfachen Verlockungen des
täglichen Lebens und dem steten physiologischen
Wirken der Geschlechtlichkeit gegenüber gar nicht
in Anschlag zu bringen sind.
2. Die Frage, inwiefern die seruelle Wirkung
von Kunstwerken berechtigt sei, scheint mir
so müßig, als es die Frage wäre, ob sexuelle
Erregung durch den Anblick einer schönen, leben¬
digen Gestalt des gleichen oder des anderen Ge¬
schlechtes berechtigt ist. Die Kunst ist hin¬
sichtlich der Wirkungen, die sie erzielt, so unbe¬
kümmert wie die Natur. Und ich finde, wenn
einmal ein großes Kunstwerk geschaffen würde
von so ungeheurer sexueller Reizmacht daß eine
Flutwelle von Sinnlichkeit sich über die ganze
Menschheit ergösse, so wäre das ebensowenig An¬
laß, die Ausstellung, Weiterverbreitung, Ver¬
vielfältigung dieses Kunstwerkes zu verbieten,
als die Behörden bisher den Versuch gewagt
haben, die körperliche Schönheit zu untersagen.
3. Meine Bedenken gegen die Porno¬
graphie sind ausschließlich ästheti¬
scher Natur. Das heißt: meine Abneigung
gegen pornographische Produkte beruht nicht
darauf, daß manchen die Eigenschaft innewohnt,
sexuelle Erregungen auszulösen, was sie be¬
kanntlich mit manchen wirklichen Kunstwerken
gemeinsam haben, sondern darauf, daß porno¬
graphische Produkte immer etwas Verlogenes
oder Talentverlassenes, manchmal beides zugleich
vorstellen.
Ich glaube nicht, daß die Grenze zwischen
Pornographie und Kunstwerk schwer fest¬
zustellen ist. Der Kenner wird diese Grenze
gerade so gut festzustellen imstande sein wie
jede andere zwischen Kunst und Nichtkunst.
Das Mißliche ist nur, daß dieser Grenzfrage
gegenüber nicht nur jene Leute versagen, denen
von Geburt aus die Fähigkeit mangelt, Kunst¬
werke zu beurteilen, also die große Mehrzahl
der gesamten Menschheit, sondern auch manche,
denen wohl die Fähigkeit gegeben wäre, die
aber durch falsche Erziehung, krankhaft ge¬
steigerte Erregbarkeit oder aus Gründen
berufs= und gewerbsmäßiger Heuchelei geneigt
sind, jedes Kunstwerk vor allem auf seinen
sexuellen Irritationskoeffizienten hin anzu¬
sehen. Es scheint mir überhaupt kein Anlaß
vorzuliegen, die Frage der Geschlechtskrank¬
heiten von der Tatsache der geschlechtlichen
Erregung aus in Angriff zu nehmen, gegen die
ja doch glücklicherweise jede staatliche und jede
kirchliche Maßnahme vollkommen machtlos
bleiben wird. Die Frage der Geschlechtskrank¬
heiten ist nur von den Gesichtspunkten der
Aufklärung, der allgemeinen Bildung und
der Aufrichtigkeit anzugehen und der Kampf
gegen die Geschlechtskrankheiten und ihre Ver¬
breitung sei ein Kampf gegen Unbil¬
dung, falsche Schamhaftigkeit und Heuchelei,
arte aber nicht aus in einen Kampf gegen
die Sinnenfreude als lebenverschönende und
lebensschöpferische Kraft.“
Aus der Debatte.
Der Vorsteher der Buchhändlerkorvoration
Herr Deuticke sprach hierauf über die Aus¬
breitung der pornographischen Literatur im
Handel.
Landesausschuß Vielohlawek führte aus
über die Ursachen der Geschlechtskrankheiten sei