VII, Verschiedenes 11, 1909–1911, Seite 1


bagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis, New-Vork,

Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Petersburg.
05
agte r oimh.
Dre urdenwart, Verin
= Ausschnitt aus:
CANURP 1910
E vom:
Schlenthers Glück und Ende.
Die Raben umkreisen das Haupt des Wiener Burg¬
theaterdirektors, und das Ende seiner Theaterschaft ist nur
eine Frage von Tagen und Wochen. Hinter den Kulissen
wird gegenwärtig nur mehr um die — Leichenkosten ver¬
handelt. Schlenther bekommt nämlich etwa 40000 Mark,
wenn er „hinausgeworfen“ wird. Wenn er selbst geht, be¬
kommt er nur eine Pension. Dem Temperament Schlenthers
entspricht es nun, lieber „gegangen zu werden". Dem
Herzen des Hoftheaterintendanten tut es anderseits weh,
einen höheren Beamten nach zehn Jahren hinauszuwerfen,
wenn das 40 000 Mark mehr kostet. Sie werden aber
sicher einig werden: Herr Schlenther wird etwa bis zur
Treppe selbst gehn und sich über die Treppe — werfen
lassen und für diesen halben Wurf nur 20000 oder
30000 Mark bekommen. Herr Schlenther ist heute schon
schweres Erbe antreten. Baron Berger vom Hamburger
Schauspielhaus wird dieser Erbe nicht sein. Baron
Berger ist zwar nicht um eines Haares Breite mehr
Aliberal, als er klerikal ist; aber er steht nun einmal im
Geruch, ein Liebling der Juden — des eigentlichen
Burgtheaterpublikums — zu sein, und die Lieblinge von
Juden liebt Kaiser Franz Josef so wenig wie die Juden
selbst. Baron Berger aber und Herr Kainz haben
Schlenther zur Strecke gebracht. Von Jour zu Jour, von
Mana zu Mann, von Frau zu Frau ist mit fieberhaftem
Eifer gegen Schlenther gearbeitet worden, bis also das
also präparierte Publikum streikte, und der Theaterkassierer
selbst eines Tages dem Intendanten, Fürsten Montenuovo.
meldete, daß es mit Herrn Schlenther nicht mehr gehe.
Der Theaterkassierer ist auch bei einem Hoftheater der
mächtigste Faktor. Sein Urteil gilt auch dort für in¬
appellabel. Ein Defizit ist nämlich an einer Hofbühne
iebensächlich, solange es — nicht da ist. Was Herr
v. Berger gegen Schlenther hat? Ganz einfach: er will
ein Nachfolger werden! Und Herr Kainz: Er will auch
Schlenthers Nachfolger werden. Dieser brave Mann läßt
herrn Schlenther durch seine Sprachrohre sogar den Vor¬
ourf machen, daß er mit ihm einen für das Burgtheater
ngunstigen Vertrag geschlossen habe. Der Mime
ar nämlich billiger als für 1200 Mark pro Abend nicht
u haben, und Schlenther durfte ihn nicht ziehen lassen,
beils der Kassierer nicht will.
Neun Jahre lang war Paul Schlenther ein guter
Burgtheaterdirektor. Sogar ein ausgezeichneter. Denn
rst vor wenigen Monaten ernannte ihn der Kaiser zum
hofrat. (Ein österreichischer Hofrat ist ungefähr soviel
vie ein preußischer Geheimer Oberregierungsrat, wahr¬
cheinlich sogar etwas mehr, und die Hofratswürde ist die
hochste, die an einen Leiter des Burgtheaters jemals ver¬
geben ward.) Schlenther trieb es in diesem zehnten Jahr
nicht anders als in den neun ersten. Er setzte dem
Publikum denselben Fraß vor, wie all die Jahre vorher.
Bei einem Stück von Hans Müller kam es zu einem
großen Skandal. Das Stück war wirklich schlecht; aber
Muller hat nie ein gutes geschrieben, und sein Unsinn hat
sich im Burgtheater etlichemal bewährt. Jetzt sind die
Leute störrisch geworden, und wenn einer von den ihren,
der vielgeliebte Schnitzler oder der nichts könnende Herr
Hoffmannsthal, aufgeführt würden, Schlenther könnte es
ihnen nicht mehr recht machen ... Schlenther soll das
Repertoir verelendet haben. Mit Verlaub, meine Herren
Intriganten, wieso? Herrn Schlenther plagen meines
Wissens seit dem ersten Tage seiner Theaterregierung
keine literarischen Skrupel und Zweifel mehr. Er spielt,
was das Publikum will, nimmt, was gut und billig ist,
und führt die österreichischen Dramatiker wenig auf, weil
sie allesamt nicht nur nichts können, sondern auch dem
Publikum nicht gefallen. Ein Burgtheaterdirektor ist kein
Publikumsdresseur Schlenther soll ferner für keinen
künstlerischen Nachwuchs gesorgt haben? Wirklich un¬
erhört! Von der alten Burgtheatergarde sollen etliche
Säulen geborsten sein? In der Tat — welch eine Ge¬
meinheit Schlenthers, daß Sonnenthal gestorben ist! Der
Mann verdiente, für den Tod Sonnenthals, für den Tod
Lewinskys, Krastels und der Mitterwurzer gerädert und
gevierteilt zu werden! Aber eins mögen mir die Herr¬
schaften verraten: wie sorgt man bei Lebzeiten Sonnen¬
thals für einen Nachfolger? Hat denn Sonnenthal mit
seinen 74 Jahren und seinem zahnlosen Mund nicht noch
kurz vor seinem Ende den 19jährigen Hamlet gespielt?
Ist ein Burgtheaterdirektor imstande, einem Sonnenthal,
der mehr als 50 Jahre am Burgtheater war und tausend
„Beziehungen“ hatte, eine Rolle abzunehmen? Und
welcher Komödiant, der ein Liebling des Publikums ist,
gibt bei Lebzeiten eine Rolle ab, ohne seinem Direktor ein
Bein zu stellen? Und welcher Schauspieler wird ein
„würdiger Nachfolger“ Sonnenthals dadurch, daß er den
Schlenthers noch ein Geheimnis verraten: auch der mehr
als 80jährige Baumeister wird eines Tages sterben, und
Schlenther hat keinen Nachfolger für ihn. Meine Herren,
bei jeder Hofbühne folgt auf eine Generation der Blüte
eine Generation des Verfalls. Das liegt an den Ver¬
hältnissen, die stärker sind als die Menschen. Schlenther
hat den Verfall der Wiener Hofbühne nicht gefördert, er
konnte ihn kaum hemmen. Ein andrer hätte es auch nicht
gekonnt. Eine andre Frage ist die, ob er imstande wäre,
später den Schutt wegzuräumen und ein neues Burg¬
theater aufzubauen. Aber für das untergehende
Burgtheater ist er heute ebensosehr der Mann, wie er es
neun Jahre lang gewesen ist: ein kluger, sehr gebildeter
Mensch, der die Grenzen seiner Macht, der das Oben
und das Unten kennt, der nicht senil und nicht verbraucht
ist, der genau so an seinem hohen Amt klebt wie ein
andrer. Dieser andre wird auch nicht zaubern können.
Ernst F. Friedegg (dzt. Berlin).