VII, Verschiedenes 11, 1909–1911, Seite 2

Nr. 287
17. Oktober 1909
Fremden-Slatt.
Wien, Sonntag
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ohne „Charakter“. Sie hat sich naturlich selber nicht verstanden,
märchen eitel Wahrheit wird und hinwieder alle äußere Situation
als sie sich sofort dem vierzigjährigen Doktor an den Hals warf. Der
inneres Erlebnis. Und dagegen Burckhard, der Mann mit den zwei
Abend war halt gerade so gestimmt; in Tolstois „Kreuzersonate“
Leben im Leibe, einem in strengen Realien verarbeiteten und einem
kann man etwas darüber leien. Und diese ganze Luft in dem
in poetischen Lizenzen anfanas vertändelten, dann auch wieder fruchtbar
konsularischen Hause ist so voll Umarmungen. Wenn etwas schnalzt,
gemachten. Schnitzler, der Dichter aus einem Guß, dem bei aller
kann es nur ein heimlicher Kuß sein. Und alles ist Anspielung. Eine
Zusammengesetztheit des modernen Lebens, das er darstellt, kein
Erotik, ein Erotismus weht umher. Wie drollig (und bezeichnend!).
Sprung durch den Klang geht, durch den Gesamtton seines Schaffens.
was der „reinen, innerlich unberührten“ Marait an Dr. Bernd am
Und Burckhard, der so zusammengesetzte Mensch, oder wenigstens
meisten gefallen hat. Daß er „so unverdorben“ scheint. Diese Kleine
Mensch mit so zusammengesetztem Lebensinteresse, der ein halbes Leben
unterscheidet wahrhaftig schon zwischen verdorbenen und unver¬
lang die Mißklänge des Lebens und der Kunst gesammelt hat und
dorbenen Herren. Und, wie sich zuletzt herausstellt, hat sie einer be¬
nun in der anderen Hälfte die Komödie dieser Kakophonie schreibt,
freundeten Frau Professorin gelegentlich ein Buch geborgt, das diese
eine ideale Katzenmusik, welche die Disharmonie unserer Gesellschafts¬
verheiratete Dame angeblich vor Erröten gar nicht auslesen konnte.
ordnung ad absurdum führen soll. Zwei sehr verschiedene Geister, wahr¬
Nämlich „Aphrodite“ von Pierre Louys. Ja, so sind sie. Der Konsul
heftig, und dabei jeder ein Temperament für sich, ganz und spezifisch,
sagt gelegentlich, und das ist wiederum ganz unwiderleglich: „Die Madel
schnitzlerisch der eine, burckhardisch der andere, zwei Vollgewichte in
sind halt, wie Mädel sind in diesen Jahren.“ Und die Frau Konsul
der modernen Schale unserer Wiener Geschmackswage.
beurteilt auch Margits Verlobung mit dem Doktor sehr verständig:
Was mich auf diese (mangelhafte) Parallele bringt, ist die Ver¬
„Heute imponiert ihr das ungeheuer, daß ein gesetzterer Mann usw. usw.
wandtschaft — Schwesterschaft möchte ich sagen — zwischen Margit
Aber ob sich's nicht auf einmal zeiat, daß eigentlich ein junger Springins¬
und Christine. Margit, Margitl, Margiterl, dem Mädchen im Asra¬
feld ihr noch besser gefiele?“ Und gerade so einer ist ja der Konsul.
stück, und Christine, dem Mädchen in „Liebelei“. Wie zwei gefullte
Ganz schrecklich jung, für sein Alter. Und seine letzte Jugend schreit
Nelken, die dicht nebeneinander aus dem nämlichen Wiener „Garten¬
jetzt nach Margit. Sie muß. Wie sie damals mußte, am Schlusse
geschirr“ gesprossen sind, aber die eine ist rot, die andere weiß. Beide
des zweiten Aktes, als das Heiratshindernis des Dr. Brand auf¬
werden gepflückt, von der Hand des Mannes, der ihnen beschieden,
tauchte. Was tat sie? In seine Arme warf sie sich, mit dem Schrei:
aber die schneeweiße nimmt die Sache tragisch und fällt ins Wasser,
„Wenn du mich nur gern hast! Diese dumme Heiraterei, das ist
die blutrote nimmt die Sache, wie sie ist, also eher komisch, jeden¬
mir ja doch so Wurst!“ Das ist ein prächtiger Naturlaut, mitten
falls gemütlich, und schmiegt sich bereitwillig in das warme Knopf¬
aus so vielem faulen Zauber heraus. Eigentlich die Effektszene des
loch an dem schönen Rocke, den ein erster Schneider von Wien gemacht
Stückes. Die erwarteten Folgen hat sie ja nicht, denn das süße
hat. Ihr Onkel, der Konsul, der fünfzigjährige Weibergenießer und
Mädel besinnt sich. „Ich kann doch dem Onkel das nicht antun!“
in seiner brutalen Weise auch Weiberversteher, hat ganz Recht, wenn
Daß sie nämlich nicht seine „Jugend“ wird. Da er sie dochs an¬
er von ihr sagt: „Ein lieber Schatz ist die Margit, aber ein
ständig versorgt, Zukunft sicherstellt usw. Und so hat der Kmsul
Charakter? Ne!“ Er weiß, sie wird ihm schließlich den Willen tun und
noch ein letztesmal recht, mit seiner zynischen Entschuldigung: „Doktor
bei ihm bleiben, als seine zweite Jugend, gegen gute Versorgung natürlich.
Brand ist auch nicht vom Stamme jener Asra, welche sterben, wenn
Ihre „Ansprüche“, wie der kostbare technische Ausdruck lautet, werden „voll¬
sie lieben.“ Nein, er ist kein Asra. Dieser Stamm scheint überhaupt
kommen sichergestellt“ werden. Das ist doch so anständig, wie nur was.
ausgestorben zu sein.
Und seiner kranken Frau, von der er sich früher in korrektester Weise
Mit dieser Wendung im Charakter Margits war ein Teil der
trennen wird, setzt er eine „ganz anständige Apanage“ aus. Und an¬
oberen Ränge gar nicht einverstanden. Und diese Gefahr kam nicht
ständiger als „ganz anständig“ braucht doch gewiß niemand zu
unvörhergesehen; hatte man doch aus Vorsicht die ganze Szene ge¬
sein. Besonders, wenn man in Ans hlag bringt, daß er alles das
strichen, wo der Konsul seiner kränkelnden Frau den Laufpaß gibt.
auch viel billiger haben könnte. So ein Gewaltmensch, gegen den
Diese Szene hätte vermutlich zu noch anderen Laufpässen geführt. Der
in seiner Umgebung gar kein Widerstand denkbar ist. Kein männ¬
Fehler des Verfassers liegt aber eigentlich doch nur im Tempo. Diese
licher, und ein weiblicher schon gar nicht. Er ist ja der Charmeur.
Dinge kommen so im Handumdrehen, und überdies dreht er die Hand
Selbst seine Frau willigt seufzend ohneweiters in ihre Verstotzung.
gar so schnell um. Schon im dritten Akt hatie übrigens die Unruhe
Wie bisher in ihre Beiseitelegung und das aufgelegte Haremleben,
unter dem Plafond begonnen und pflanzte sich nach unten fort. Großes
das er führt. Unter lauter netten Weiberchen, die gewiß auch ihr
Fur und Wider fand statt. Vom zweiten Aktschluß an erschien
Gewissen haben, aber eines mit jenem elastischen Einsatz, ohne den
Burckhard mit den Darstellern; ich weiß nicht wie oft, aber sehr oft.
es beim Tragen arg geniert. „Nicht wahr, sagt eine der vielen,
Freund und Feind rief ihm zu, aber nicht ganz das Nämliche. Es
„nicht wahr, ich bin keine schlechte Frau, weil ich mit dir ein Ver¬
war ohne Zweifel ein Erfolg, mit einem kleinen Skandal als
hältnis hab'?“ Er könnte ihr darauf in scherzhaftem Mißverständnis
Schleppe. Denn im letzten Akte wurde auch schon fleißtg gepfiffen
antworten: „Mit wem denn sollst du ein Verhältnis haben?“ Alle
und Pfni gerufen, von den lauten kritischen Glossen gar nicht zu
haben mit ihm ein Verhältnis; das ist sein Herrenrecht, weil es
reden. „Lauter, Ehmann!“ rief es herab, als dieser Schauspieler zu
sein Männchenrecht ist. Lehnt er sich doch offen gegen die Redensart
leise wurde. Und so fort. Es gab Augenblicke, wo die Parteien
auf: „Eine Frau, die dich hat.“ „Hat! hat! Mich hat keine! Ich
oben sich regelrecht in den Haaren zu liegen schtenen. Eindruck also
habe sie, alle!" Und seine arme kranke Gattin entschuldigt ihn
hat das Stück reichlich gemacht; über Mangel an Anteil kann sich
schier selber; die Weiber seien das Ventil, wo die Dummheit selbst
Burckhard nicht beklagen. Natürlich darf man darum nicht nuch der
der gescheitesten Männer sich Luft macht.
Polizei rufen. Die Leute sollen sich nur brav erhitzen, bei einem künstleri¬
Der Konsul ist also Spezialist in Untreue. Das ist seine Natur
schen Anlaß, sie haben sich's ohnehin schon zu sehr abgewöhnt.
und er will natürlich leben. Er ist ein Naiver mit unumwundenen
Grenzen gibt es, selbstverständlich. Auch an den üblichen politisieren¬
Trieben. Sogar etwas von einem großen Kind ist in ihm; wie sich
den Demonstrationen fehlte es nicht; z. B. wenn ein drastisches
beim Kegelspielen und beim „Pils“ zeigt. Und dann ist er ein Gro߬
Wort über Staatsweisheit oder gar einen Sektionsrat fiel. Es
projektant, den Kopf voll ferner und riskanter Sachen; sollten ihm
dieser Richtung. Der
fliegen einige witzige Pfeile
diese kleinen nahen Angelegenheiten bedenklich erscheinen? Vollends,
Stürmen mannhaft und
diesen
hielt (
Verfasser
da er doch Margit wirklich liebt; ohne es anfangs recht zu wissen.
munter Stand. Er hatte ja den Aufruhr aufgerührt,
Und sie ihn auch, ebenso unbewußt. Sein weiberkennerischer Instinkt
es war ihm wieder einmal gelungen. Am schlimmsten
schreit sie im zwingendsten Augenblicke ganz logisch an: „Eigentlich
ging es in jener gefährlichen Szene Fräulein Müller, welche die
hast du ja doch mich lieber, das andere ist doch nur Einbildung!“
Margit spielte. Sie schien sich förmlich für die Margit zu genieren,
Er wollte sie nämlich, da das Mädel seine größte Sorge ist, eben
wegen dieses kleinen Charakterfehlers, zu dem sie kluglich ihren
erst verheiraten, mit einem Dr. Brand, der zwar schon
schönsten Hut aufgesetzt hatte. Und auch Herr Thaller, der den
vierzig Jahre ist und die Marait lloß achtzehn. Und, wie
Konsul, erst wo er anstößig wird, gut zu spielen begann, hielt mit
er schon ist, überrumpelte er beide und ehe sie es merkten.
dieser Güte wie erschreckt inne. Der Charmeur natürlich fehlte ihm
waren sie öffentlich verlobt. Hinterher erst stellten sich Schwierigkeiten
gänzlich. Der beste unter den Darstellern war eigentlich Herr
ein; Dr. Brand ist ja „katholisch gesczieden“ und dergleichen.
Kutschera, der den „asiatischen Tscherkoff mit Schwung und
Und dann kommt es, wie die Frau Konsul ganz richtig vorherge¬
Exotik gab. Auch Herr Homma als bornierter Sektionsrat war
sehen, denn sie kennt ihren Mann. Sobäld der andere die eine kriegen
sehr spaßig. Die Damen Marberg, Galafrés und
soll, wird der Konsul, eifersüchtig. Er st wie ein leidenschaftlicher
Wallentin und Herr Kramer als Nicht=Asva fanden
Jäger, der keinem anderen einen Schuf gönnt. Dieser Schußneid
H.
sich ab.
trägt mit dazu bei, das tierische Moment in ihm aufzureizen. Die
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Ehe würde ungiltig erklärt werden? Auch ein Malheur! Er kann
Photographische Moment-Apparate!
sie nicht heiraten? Desto besser! Seine Sinnlichkeit zieht automatisch

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sofort die Konsequenzen, bis zur allerletzten. Und dann preßt er
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Margit an die Wand. Du läßt ihn laufen oder „pack' dich auch zu
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Ansheen
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