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Natur wie der Gesellschaft gegeben. Das ist trotz aller zunächst nivel¬
lierenden Wirkung ein unverlierbarer Gewinn, der nicht mehr ver¬
leugnet werden darf. Wenn auf diesem tief durchwühlten Grunde
eine neue Kultur der Freiheit gebaut werden soll, so kann nur der große
Baumeister der letzten Jahrhunderte, er, der Renaissance, Refor¬
mation, Aufklärung, Revolution und Kaiserreich gebaut hat, der Geist
des Liberalismus das Werk ausführen. Aber er kann nur bauen,
wenn er die Lehren des abgelaufenen Jahrhunderts annimmt, wenn
er Naturwissenschaft und Sozialismus nicht ignoriert und verachtet,
sondern in sich aufnimmt und neu verarbeitet. So kann politisch der
Liberalismus nur Bedeutung und Macht zurückgewinnen, wenn er
alle Wahrheiten des Sozialismus tief in sich ausgenommen hat —
und er scheint auf dem Wege dazu. So kann dramatisch die neue
Tragödie nur Gestalt und Macht gewinnen, wenn sie alle Kunst der
Menschengestaltung, mit der uns die „naturalistische Aera bereichert
hat, beherrscht und nach Wahl und Ziel mit verwendet — ist sie auf
dem Wege?
Paul Ernst, der vom Abhängigkeitsdogmatismus jäh übersprang zu
einem Dogmatismus der Freiheit swas ein Widerspruch in sich bleibt),
führt diesen Weg nicht. Aber ob aus der Asche des Naturalismus, in
unmittelbarem Auschluß an die Traditionen der achtziger Jahre, ohne
neuromantische oder nenklassische Umwege sich vielleicht Zukunft¬
volles erhebt? Ob Hauptmann oder Schnitzler heute einen Nach¬
wuchs haben, der das Wichtige ihres Wertes#festhalten und sie doch
überwachsen kann? Das ist die letzte bedeutende Frage, auf die uns die „
dramatische Produktion des Jahres 1910 noch Antwort geben soll.
Der Brand von Peter Altenberg
zwei Uhr morgens kam die Nachricht in die American Bar,
daß ein Palais nächst dem Stadtpark in Flammen stehe. Wir
4 ließen unsre wunderbaren Mischungen sofort stehen, fuhren im
Fiaker rasend hin.
Auf dem Dache des fünfstöckigen Palastes leuchteten die weißen
Magnesiumfackeln der Feuerwehr, und goldgelbe und rote Funken fielen
zur Erde. Unten im Finstern der Straßen leuchteten die Lampen der
Feuerwehr=Automobile wie getreue Wächterhundeangen! So besorgt¬
gutmütig!
Der Stadipark war schwarz und einsam. Auf einer Bank saßen
Zwei, Hand in Hand. Sie betrachteten den Brand des Palais, hörten
die Feuerwehrsignale: „Wasser! Wasser! Wasser!“ und sie waren und
sie blieben versunken in ihrem eigenen unentrinnbaren Schicksal!
Das Palais brannte, und man erließ für die obern Parteien
bereits die Nachricht, sie möchten delogieren und herabkommen —
Der Stadtpark war einsam und im Dunkeln —
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Natur wie der Gesellschaft gegeben. Das ist trotz aller zunächst nivel¬
lierenden Wirkung ein unverlierbarer Gewinn, der nicht mehr ver¬
leugnet werden darf. Wenn auf diesem tief durchwühlten Grunde
eine neue Kultur der Freiheit gebaut werden soll, so kann nur der große
Baumeister der letzten Jahrhunderte, er, der Renaissance, Refor¬
mation, Aufklärung, Revolution und Kaiserreich gebaut hat, der Geist
des Liberalismus das Werk ausführen. Aber er kann nur bauen,
wenn er die Lehren des abgelaufenen Jahrhunderts annimmt, wenn
er Naturwissenschaft und Sozialismus nicht ignoriert und verachtet,
sondern in sich aufnimmt und neu verarbeitet. So kann politisch der
Liberalismus nur Bedeutung und Macht zurückgewinnen, wenn er
alle Wahrheiten des Sozialismus tief in sich ausgenommen hat —
und er scheint auf dem Wege dazu. So kann dramatisch die neue
Tragödie nur Gestalt und Macht gewinnen, wenn sie alle Kunst der
Menschengestaltung, mit der uns die „naturalistische Aera bereichert
hat, beherrscht und nach Wahl und Ziel mit verwendet — ist sie auf
dem Wege?
Paul Ernst, der vom Abhängigkeitsdogmatismus jäh übersprang zu
einem Dogmatismus der Freiheit swas ein Widerspruch in sich bleibt),
führt diesen Weg nicht. Aber ob aus der Asche des Naturalismus, in
unmittelbarem Auschluß an die Traditionen der achtziger Jahre, ohne
neuromantische oder nenklassische Umwege sich vielleicht Zukunft¬
volles erhebt? Ob Hauptmann oder Schnitzler heute einen Nach¬
wuchs haben, der das Wichtige ihres Wertes#festhalten und sie doch
überwachsen kann? Das ist die letzte bedeutende Frage, auf die uns die „
dramatische Produktion des Jahres 1910 noch Antwort geben soll.
Der Brand von Peter Altenberg
zwei Uhr morgens kam die Nachricht in die American Bar,
daß ein Palais nächst dem Stadtpark in Flammen stehe. Wir
4 ließen unsre wunderbaren Mischungen sofort stehen, fuhren im
Fiaker rasend hin.
Auf dem Dache des fünfstöckigen Palastes leuchteten die weißen
Magnesiumfackeln der Feuerwehr, und goldgelbe und rote Funken fielen
zur Erde. Unten im Finstern der Straßen leuchteten die Lampen der
Feuerwehr=Automobile wie getreue Wächterhundeangen! So besorgt¬
gutmütig!
Der Stadipark war schwarz und einsam. Auf einer Bank saßen
Zwei, Hand in Hand. Sie betrachteten den Brand des Palais, hörten
die Feuerwehrsignale: „Wasser! Wasser! Wasser!“ und sie waren und
sie blieben versunken in ihrem eigenen unentrinnbaren Schicksal!
Das Palais brannte, und man erließ für die obern Parteien
bereits die Nachricht, sie möchten delogieren und herabkommen —
Der Stadtpark war einsam und im Dunkeln —
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