VII, Verschiedenes 11, 1912–1913, Seite 15

11. Miscellaneons
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Neues Wiener Journai
Sogar Alfred Kerr, der von allen am zornigsten und am
begeistertsten sein kann, sogar Kerr ist kein Theaternarr, sondern
ein Historiker, der die Literatur auf dem Theatermarkt sucht.
Seine Kritiken setzen sich nicht zusammen aus lauter Leidenschaft!
fürs Theater, sondern aus Geist, Sprachkunst, Literaturkenntnis
und Wahrheitsliebe. Er selbst definiert sich und sein Handwerk
ch
folgendermaßen: „Der Kritiker soll die Kritik des Hasses und der 2#
er
Liebe geben, temperiert durch historische Gerechtigkeit. Sie trachte,g.
die Werke zu sehen, wie sie der Literaturhistoriker in fünfund=e
se
zwanzig Jahren sehen wird. Sie schäme sich der ungezwungensten
in Regungen nicht: des Hasses und der Liebe. Denn die Kritik ist
Man
sieht,
keine Wissenschaft.“
ens eine Kunst,
cht kommt von Nietzsche und Ibsen, hat von der Kunst,
en zu kritifieren, eine hohe Meinung und schätzt sie produktiver
Tätigkeit gleich. „Gepfefferte Inhaltsangaben sind freilich keine
in
Kritik. Aber der wahre Kritiker ist ein Dichter, ein Gestalter.
Er reproduziert den Kern der Gehirnkonstruktion eines Autors.
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hr Eine gute Rezension hat Aussicht, länger zu leben als ein
hr schlechtes Stück!“ Voraussetzung dieser Lebenskraft ist natürlich,
daß die Artikel, die Kerr für die gebildetste Zeitung
ir¬
die des Scherlschen Verlages, den roten Tag „dichtet", zu Bänden
demnächst kommen bei S. Fischer in
ir¬
gesammelt werden
Berlin die gesammelten Werke von Kerr, fünf Bände, heraus.
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„Selbstverständlich kann der Kritiker produktiv sein“, sagte
in:
er mir einmal in einem vielstündigen Gespräch, „als Kritiker
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kann er es sein. Er ist es, wenn er ein Kunstwerk erzeugt.
Warum sollte Kritik nicht als eine Dichtungsart angesehen werden
m
zen können? Ich finde, nicht das Publikum, sondern der Kritiker hat
des zu geringen Respekt vor seinem Geschäft. Ich treibe das Ver¬
fassen von Rezensionen nicht wegen des Publikums und nicht#
hen wegen des Autors, sondern meinetwegen!“
Kerr will also ein Herr und nicht ein Diener der launen=z
die
haften Menge sein. Und er ist ein kurz angebundener Herr dasu.
des
„Kritik soll Extrakt sein“, meint er, „und nicht Limonade. Zu¬
sammendrängung bleibt die Form der Zukunst.“
in
Wenn Kerr ein Wort, einen Satz gefunden hat, der ihm
de,
sch=besonders gefällt, dann wiederholt er ihn auf der Stelle und ge¬
upt braucht ihn in seiner Abhandlung noch ein halbes Dutzend Mal,
er sagt oder verschweigt vieles in Punkten, aber über drei bis vier
und
Un= enge Feuilletonspalten hinaus reicht sein Atem selten. Diese hundert
den Zeilen teilt er meist auch noch in fünf oder sechs Kapitel ein. Er
bemüht sich, von epigrammatischer Kürze zu sein und sein Stil ist
sie
von der Schlankheit der Satzformen eines Nietzsche, magerer noch
und
die als der Satzbau Schopenhauers, asketischer noch als die Schreib¬
iel= weise von Karl Kraus. Von der Stilseite her ist ihm wohl
zät= Marimilian Harden unsympathisch, und er wird nicht müde,
Harden zu verletzen und zu einer Polemik herauszufordern.
irde
uf Einmal nennt er ihn eine Grunewaldgröße (Harden wohnt in
nte der kleinen Gemeinde Grunewald bei Berlin), dann wieder einen
Deklamator mit dem Konversationslexikon (weil Hurden dar so
uch
belesen tut). Dann wirft er ihm seinen „Bandwurmstil“ vor,
ät¬
seine Schauspielervergangenheit (indem er ihn Schminkeles heißt),
de.
spricht in einem Atem von ihm als dem alten ehrlichen Harden,
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Be= also höchst ironisch, und behauptet ein andermal, er wäre in Kunst¬
fragen „schwach begabt wie Bohnenstroh, aber sehr befähigt, glänzend
sieg
sensationelle Artikel zu verfassen“. Auf alle diese Schmeicheleien
nen
hat Harden, der sich selbst als Raufbold in der Literatur und in
Her
der Publizistik einen Namen gemacht hat, niemals mit einer
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Sterbenssilbe, nicht mit- der versteckteften Andeutung geantwortet.
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Ich habe Kerr einmal gefragt, wie er sich das Schweigen von
sen
Harden erkläre, und er sagte mir: „Das Berliner Gerücht, das
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bestimmt davon wissen will, ich hätte gegen die Privatperson
Harden kompromittierendes Material im Schreibtisch liegen, und
Harden fürchte im Fall einer Polemik die Ausnützung dieser
Dinge gegen ihn, ist nicht mehr als ein Gerücht. Die
Sache liegt vielmehr so: Für so unehrlich ich auch Herrn
Harden halte, so glaube ich doch, daß er sich selbst einigermaßen

kennt und auch ahnt, daß ich ihn erkannt habe. Hardens Taktik
ist es immer gewesen, zu schweigen, wenn er im Unrecht war#ke
und nicht unbedingt antworten mußte!“
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Dr. Kerr stammt aus Breslau, steht in der Mitte der#
in vierziger Jahre, und seinen Ruf — er wird von Autoren und
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Schauspielern in gleichem Maße gefürchtet — verdankt er nichtg
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so sehr seinem Können, seinem Geist und seinem Urteilsvermögen, k#
n
wie dem Skandal, den er oft und oft erregt hat. Das fing er schons#
vor 25 Jahren an. Damals spielte ein, seither völlig vergessener
1
Musikkritiker eine gewisse Rolle in Bertlin. Er hieß Tappert,
und Kerr erfuhr, daß sich Tappert gelegentlich für seine