VII, Verschiedenes 11, 1915–1917, Seite 36


Die klingende Schelle.
Was Salten in diesem formvollendeten
Werke gibt, ist etwas ganz Eigenartiges:
die Tragödie zugleich mit der Parodie des
Asthetizismus, seine kultivierteste Durch¬
bildung und sein schwerster Zusammenbruch.
Georg Erbacher ist der Held. Schon der
Vorname, den die moderne Wiener Lite¬
ratur besonders bevorzugt — man denke an
Schnitzler. Beer=Hofmann — bezeichnet ihn,
all seinen Neigungen, Stimmungen, Launen
wird bis in die leisesten Regungen feinfühlend
nachgegangen, gewöhnlich mit einem „Georg
liebte“ ganz wie etwa in Andrians „Garten
der Erkenntnis“. Diese Figur bedeutet die
höchste Blüte der Wiener Kultur, die raffi¬
nierteste Ausbildung des Lebensegoismus,
den Luxus, Reichtum, Musik, schöne Frauen
umgeben, während das wirkliche Dasein nur
von weitem, kaum vernehmlich hereinschallt.
Was er, der Herr unermeßlichen Reichtums,
sich geschaffen, ist das Symbol seines Wesens:
ein Palmenhaus, dessen schwüle, beklemmende
Luft die wundervollsten tropischen Pflanzen
großzieht, der verwirklichte Traum einer
Flucht aus der Brutalität des Wiener Klimas.
Und gerade an dieser Stätte seiner Los¬
lösung von jedem Zwange der Umgebung
tritt ihm ein kleines, unbedeutendes Mädchen
entgegen, mit der Forderung plattester, ge¬
wöhnlichster Wirklichkeit: sie begehrt seine
Hand, nachdem sie ihm ihre Liebe gegeben
und Folgen zu erwarten sind, die ihr Vater,
der alte Soldat, auch an ihm nicht unge¬
ahndet lassen würde. Daß er diesem Drucke
weicht, mag im ersten Augenblicke wohl
überraschen, aber gerade aus Georgs Cha¬
rakter, gewaltsamen Eingriffen aus dem Wege
zu gehen und sich mit dem Leben abzufinden,
wird es wohl verständlich, daß er einen Ver¬
trag eingeht, der ihn auf keine Weise zu
binden und an seinem Dasein nichts zu
ändern scheint. Wohl zieht Maria in
fürstliches Schloß, er aber führt seine Existenz
weiter, als das „Genie des Lebens
wie
bisher. Aber doch — er fühlt es bald, wie
er mit diesem scheinbar bedeutungslosen
Schritte sich gebeugt vor der Konvention der
Tatsachen, wie er die Macht, die er bisher
über die Menschen besessen, eingebüßt. Ein
junges Mädchen, das als halbverstehendes
Kind heiß in seinen Armen geruht, entgleitet
ihm zu einer gesellschaftlich passenden Ehe,
eine bedeutende Frau, die ein tiefes Ver¬
ständnis für ihn offenbart, ist ihm zu spät
begegnet, eine bezaubernde Tänzerin wird
ihm nur ein ästhetischer Genuß, wo er auch
hier sich nicht einem fremden Willen beugen
lassen will. Aber immer zwingender drängt
sich die Alltäglichkeit in seine Existenz: eines
Tages muß er vor das Bett der jungen
Mutter treten und ein quorrendes Wesen
als seinen Sprößling sich entgegenhalten
lassen. Er ergreift die Flucht nach dem
Süden, ohne der Meldung von dem bedenk¬
lichen Zustande seiner Gattin zu achten, er
fährt übers Meer der Freiheit entgegen.
Kaum ans Land gestiegen, kommt ihm die
Nachricht vom Tode der Mutter wie des
Kindes. Was ihn sofort zurücktreibt, ist ihm
nicht recht klar, aber das Gefühl der Be¬
freiung stellt sich ebensowenig rein in ihm
ein, wie das der Trauer, erst in Neapel bringt
ihm die schattenhafte Vision einer Frau
mit einem Kinde an der Brust das Bild der
Entschlafenen, das ihn nicht mehr verläßt,
ihn auf das Schicksal anderer Menschen,
dessen er bisher nicht geachtet, seinen Blick
richten heißt. So kommt er nach Haus;
ähnlich wie in der Ebner schönen Studie
„Nach dem Tode sucht er Maria jetzt im
verödeten Gemache, er findet nichts mehr
als eine kleine Kinderschelle, die er zu sich
steckt. Jetzt möchte er in wilder Selbstanklage
Zuflucht bei den Menschen suchen: seine
Mutter, die er immer beiseite geschoben,
wendet sich mit stummer Entrüstung von
ihm, er ist glücklich, wie ihm Maurer,
junger Mann, dessen schwerfälliger Art
nach
S
ge
der
ins Gesicht schlägt, seine stille Liebe zu
Maria plötzlich offenbarend.
In wilder Abrechnung mit sich selbst
vernichtet Georg sein Werk, den herrlichen
Ziergarten, freudig stellt er sich der Pistole
des Gegners und, wo ihm der ersehnte Tod
nicht wird, will er ihn selbst suchen. Aber
mit fester Hand hält Maurer ihn zurück:
wie er die Verwüstung des Palmenhauses
gesehen, ist ihm die seelische Umwandlung,
die in dem Virtuosen des Egoismus vor¬
gegangen, klar geworden, er lehrt ihm, daß
er nun den Weg zur Güte gefunden und
ihn weitergehen müsse, unter dem Klange
der kleinen Schelle, die er hören wird, so
lange er lebt.
Eine tiefe Ethik liegt in dem Buche,
es ist eine Erziehung zur Menschlichkeit. Es
ist durchzogen von edler Sentimentalität,
oder, besser gesagt, von Sehnsucht nach
Sentimentalität. An Schnitzler geschult, er¬
hebt sich die Sprache zu feinster Durchgliede¬
rung und berauschendsten Wohllaut. Kleine
Bedenken sollen schweigen, wie daß die
Wandlung Georgs durch die Erscheinung
in Neapel nicht völlig überzeugend zum
Ausdruck gebracht erscheint. Auch gegen
den Schluß dürfen sich wohl Zweifel geltend
machen. Man erwartet unbedingt Georgs
Tod und man möchte dem Verfasser das
Wort Wilhelm Meisters über den Hamlet
zurufen: Wie konnte ich ihn am Leben
lassen, wo ihn das ganze Stück zu Tode
drückt. Jedoch — auch seine Lösung hat
eine innere Berechtigung. Jedenfalls ist das
Werk Saltens eine der hervorragendsten
Leistungen auf dem Gebiete des Wiener
Alexander v. Weilen,
Romans