VII, Verschiedenes 11, 1917–1920, Seite 32

Miscellangens
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Neueste Morgenseitung, Innsbruck
Lenin und Demel.
Wien, im April.
Und wenn sie Sägspäne zu essen bekämen — sie flüchteten lieber
auf ihre geliebte Schutzinsel am Kohlmarkt als in ein volkstüm¬
liches Arkadien der Völlerei.
Aber sie bekommen Eiscreme und Schaumtortellettes und Waffeln.
Höchst dekorative Leckerbissen, parfümierte Einhaltungen der Er¬
nährungsvorschrift
Die Servierdamen sind noch immer freundlich, ehrbar und würde¬
voll wie Schwestern eines adeligen Damenstiftes. Sie verbinden
die Allüre der Wilorandt=Baudius mit der still huschenden Devotion
einer Logenschließerin. In ihren Gesichtern steht die Bekümmernis
über die neue Zeit, die mit Grafen, Baronen, Lebemännern und allein
stehenden Damen aufzuräumen droht. Was ist die Welt ohne die
Annehmlichkeit des Dienens und Danens, ohne die beglückende Folie
der Nobligkeit, ohne das Jovialitätstrinkgeld aus gräflichem Mund?
Die Demel=Fräuleins gehörten enger und inniger zur Hautevolee
als der Xandi Kinsky und der Dolfi Starhemberg. Sie tragen auf
ihren schwarzen Blusen unsichtbare Erinnerungsmedaillons an Alt¬
Oesterreich,
Es findet hier die letzte kulinarische Ruhe statt. Wenn alles wankt
die Schwester Thesa bleibt beständig. Ihr Handkuß ist die spon¬
tanste und legalste Anerkennung des alten Regimes.
Bei Demel klingt ein ausgestorbener Dialekt noch auf: das „Knaut¬
schen“ eine Art Laute, die sich aus Gaumen und Nase quetschen,
resigniert ihren Weg zu lassen und unbekümmert darum, ob sie sich
zu einem Satzbild fügen oder nicht. Es war die Sprache der oberen
Hundert, die sich in den Rentengenuß der G. m. b. H. „Oesterreich“
teilten.
Der Graf Starhemberg trägt noch immer sein Monocle und izt
die „Scheideln“ gedankenlos aus einem Behälter, als ob er an Wein¬
trauben zupfte.
„Waren die Bojschewiken schon da?“
Hihihi!
„Nein, Herr Graf.“
„Das hat noch Zeit, Herr Graf.“
„Wir könnens derwarten, Herr Graf.“
Hihihi!
„Ich hab mich schon g'fürcht. Geh — eine Eiscreme, Thesa.
Servus Adi — wie gehts denn der Tant Klotüd?“
„Sie war bei der Hansi Palffy.“
„Hots auch schon an Angst vorn Bojschewismus?
Das Gespenst von Demel. Zwischen je zwei Portionen Eiscreme
und Gotha sitzt der Lenin. Sie bannen ihn mit Witz und Spott.
Aber über ihren Rücken läuft eine Gänsehaut. Sie singen im dunkeln
Wald der Zeit vor sich hin
.. Und antworten doch dem Tod, der
sie an der Schulter zupft „Brüderl, kumm!“ zwischen Ironie und
Degout mit „Fi donc!“
Demels Oesterreich wirkt nur n.ch schattenhaft und ärmlich. Es
ist der Kunst eines Balzac verfallen, der Arthur Schnitzlers Lächeln“
hat.
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