VII, Verschiedenes 11, 1920–1926, Seite 8



Bratendunst erfüllten Luft Tänzerpaare die neuesten Fortroits, in
den Auslagen hängt Pelzwerk, glitzert der Schmuck. Es ist
schwer, zu widerstehen, wo der Gegensatz zwischen Armut und
Reichtum riesengroß geworden und die alte bürgerliche Mittel¬
schichte zugrunde gegangen ist.
Das „süße Mädel“ Wiens hat in vielen Hungerjahren
seine Formen verloren, und muß, da die frische Farbe geschwunden
ist, Rot auflegen. Will es noch etwas vom Leben genießen, so
muß es sich eben den neuen Schiederzeiten anpassen, denn die
Zeit der süßen Mädel, die Artur Schnitzler mit elegischer Zärt¬
lichkeit besungen hat, ist vorbei. Es waren eben andere Zeiten,
als noch an jeder Straßenecke nach Geschäfts= oder Bureauschluß
jene hübschen Gestalten auftauchten mit echt wienerischen Gesichtern
unter dem einfachen Hütchen, ein Band im Haar, Lebenslust in
den Augen, die gerne lachten, mit jener natürlichen Anmut,
die auch in einfachem Kleid sich zur Geltung gebracht
hat. Viel war es nicht, wonach ihr der Sinn stand: ein netter
Freund, der auch ein wenig bemittelter Student sein konnte, man
war nicht ehrgeizig und wollte nur vergnügt plaudern und gut¬
mütig beisammen sein, ein Ausflug auf den Kahlenberg oder
zum Heurigen, bei dem man sich zum „Du zusammenfand, ein
Nachtmahl im bürgerlichen Vorstadtgasthaus, eine Operetten¬
vorstellung mit der Niese de der Kartouch. Man strebte aus dem
kleinbürgerlichen Milieu selten heraus und blieb auch bei
Küssen und beim Lieben kleinbürgerlich und mußte schon
ein Ballettmädchen sein, die ebenfalls aus Vorstadt¬
häusern ihre natürliche Liebenswürdigkeit mitgebracht haben,
wenn man den Ehrgeiz hatte, mit einem „Kavalier"
beim Sacher zu soupieren oder im Fiaker zur Freudenau
zu fahren. Das war sozusagen das höchste Avancement des
Wiener süßen Mädels". Wer nicht so hoch hinausstrebte
und nicht in Kavallerieoffizieren, jungen Abligen oder reichen
Jünglingen aus Bank= oder Industriekreisen sein Ideal sah, blieb.
in seinem bürgerlichen Kreis, aß, wienerisch plaudernd, seinen
Zwiebelrostbraten oder sein Schnitzel, trank seinen Achtel Gespritzten,
saß im Hinterstüchen von Zuckerbäckereien und knabberte an einem
Baiser mit Obersschaum, ging Hand in Hand auf den Kahlen¬
berg, oder wenn es hoch ging auf den Anninger oder spazierte in
den Prater zu Ringelspielen, Schießstätten und zur Damenkapelle
bei Prohaska. Eine Freundin, die ebenfalls ihren Freund hatte,
oder eine wohlwollende alte Tante, die in ihrer Jugend ebenfalls
mit einem jungen Mann Ausflüge gemacht hatte, war Mit¬
wisserin solcher Geheimnisse, die Mutter drückte die Augen zu, der
Vater, der aus dem Geschäft oder kleinen Amt nach Hause kam,
sah nichts.
Wien war vor etwa fünfundzwanzig Jahren — so alt dürfte
die literarische Entdeckung des „sagen Mädels" durch Artur
Schnitzler sein
noch nicht zur Großstädt zusammengewachsen.
Die Scheidung zwischen Stadt, das ist die innere Stadt, und
Vorstadt war noch vorhanden, ja sogar jeder Bezirk hatte sein
eigenes Gesicht, seine eigene Turmuhr, die nach Bezirkszeit ging,
und zwischen einem Erdberger und einem vom Brillanten¬
grund, zwischen einem Margaretener und einem, der aus
den entlegenen Gefilden von Ottakring stammte, war ein
ethnographischer Unterschied. Das
süße Mädel war
jedenfalls aus der Vorstadt. Es ist ihm ganz fern¬
gelegen, etwa eine große Dame, die bei Dehmel
Eis aß oder in der Burgtheaterloge saß, in der Mittagsstunde
über den Graben flanierte oder im Gummiradler fuhr, zu imi¬
tieren. Das war eine meilenserne, reiche, große Welt. Sie trug
ihr kleinbürgerliches Kleid, von einer billigen Hausschneiderin ver¬
fertigt, oder in einem Konfektionswarenhaus der Mariahilfer¬
straße gekauft,
hatte feste Schuhe, im Winter einen einfachen
Pelzbesatz auf der Jacke und verließ sich im übrigen auf ihr
hübsches Gesicht, ihr resolutes Geplauder, die natürlichen Gaben,
mit denen der Wiener Boden sie ausgestattet hatte. Sie
lachte über kleinbürgerliche Scherze und war ein wenig
auch ein „Dummerl. Gründliche Forscher des süßen
Mädels wollten im ganzen zwei Typen unterscheiden:
einen rundlichen, han fraulichen, gutmütigen und einen spitzen,
scharfen, kecken. Auf der Bühne, die das Spiegelbild des Wiener
Lebens war, vertrat den ersteren Typus der Wienerin die Niese,
den letzteren die Zwerenz, und auch im Wiener Walzer, der ja
für Frauenherzen geschrieben ist, gibt es zwei ähnliche Melodie¬
typen: die weichen, schmiegsamen und kecken, spitzen Weisen. Ich
selbst bin bei solchen ethnologischen Forschungen der Meinung
gewesen, daß der erste Typus, die gutherzige, mollete Wienerin
aus slawischer Einwanderung herstammt, der zweite autochthon
ist, aber da ich solche ethnologische Forschungen nur dilettierend
und ohne rechte Gründlichkeit getrieben habe, will ich auf die
Richtigkeit dieser Behauptung nicht schwören. Viele Differenzie¬
rungen hat es beim Wiener süßen Mädel jedenfalls nicht gegeben.
Existenzen zugrunde gehen. Bei diesem Bacchantenzug der ord¬
nären Instinkte wird auch das Wiener Vorstadtmädel mitgeschleift,
und sie tanzt hastig genießend mit, aber wenn sie auch kostbare
Kleider und Pelzwerk trägt, ihr unbefangenes Lachen, dieser
Naturlant der Wienerin, an dem man sie sofort erkennt, ist schon
lange verstummt.