VII, Verschiedenes 11, 1920–1926, Seite 30

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1. Miscellaneous
Seite 30.
12. April 1925
Neue Freie Presse.
beobachten und um seine Beobachtungen gleich die Phantasie
daß bald, wenn irgend möglich, sogleich. Der Autor kam an
weben zu lassen, war die tägliche Unterhaltung Meilhacs.
dem festgesetzten Tag zur bestimmten Stunde. „Da ist Ihr
Wie er jetzt vor mir steht, Meilhac, dieser eingefleischte
Manuskript," sagte ihm Sardou, „ich habe meine Be¬
egte
Pariser, der mit allen seinen Gewohnheiten hier wurzelte — er
merkungen hineingeschrieben. Bitte, lesen Sie sie zu Hause
ist ein Stück von Paris, und er ist ein Poet. Seine kleine Muse
durch." Sehr erwartungsvoll, sehr unruhig brach der Be¬
ist immer um ihn. Sie hat ein keckes Gassenjungengesicht,
sucher rasch die Unterhaltung ab. Kaum war er draußen,
inte¬
spitzt die Nase in die Luft, und das macht ihn lachen. Sie
wendete er die Blätter seines ersten Aktes um und las die
freut sich, daß ihr Näschen so lustig und nicht von klassisch¬
Randbemerkungen: „Unklar..., überflüssig . . . unver¬
griechischer Form ist. Meilhac nimmt sie überallhin mit,
zu breit . . ., schwerfällig . . . Wieder¬
ständlich ...
seine kleine Muse, denn sie ist neugierig und will alles
holung", und plötzlich fand er ganz oben auf einem Blättchen
sehen. Sie begleitet ihn in das Hippodrom, in die Folies¬
diese Notiz: „Hier ergreift der letzte Zuschauer die Flucht,
Bergères, in den Zirkus. Sie setzt sich zu ihm in den kleinen
wenn er es nicht schon vorher getan hat¬
Wagen, den alle Pariser kennen und den sie mit einer ein
Gewiß suchte Sardou niemandem Schmerz zu bereiten,
haft
bißchen affektierten Grazie, wenn er vorüberfährt, grüßen.
seine Güte leuchtete in seinen schrecklichsten Zornesausbrüchen
Wahrhaftig, wenn alle Musen wüßten, daß ihnen ein so an¬
auf, doch seine Aufrichtigkeit wirkte wieder seiner wohl¬
genehmes Los beschieden wäre wie dieser kleinen, es gäbe
Seine Gutmütigkeit mußte
um
wollenden Wärme entgegen.
viel mehr, als nur die neun
manchen listigen Kampf mit der Ursprünglichkeit seines
Meilhac führte ein häuslich zurückgezogenes Leben. Er
Temperaments bestehen.
schrieb seine Komödien auf einem kleinen Mosaiktischchen
Kein Zweiter besaß in einem so vollkommenen Grade
und er bediente sich goldener Federn. Dies schien ihm sehr
die Gabe, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Ich
amusant, weil die Goldfeder, wenn sie stockt, ärgerlich knarrt,
kenne eine rührende und zugleich unendlich liebenswürdige
Geschichte, die das erweist — von ihm und von seinen
wie du selbst, der Autor, wenn dir nichts mehr einfällt

Kindern. Sie waren damals noch sehr jung und begleiteten
ind¬
Nach Tisch liebte er ein Spielchen: Ecarté zog er vor.
ihn auf seinen Spaziergängen. Sie hatten oft ihren Vater
Elf Runden wurden gemacht, niemals eine mehr, niemals eine
der über Ludwig XIV. reden hören, als wäre er ein glänzender,
weniger. Er spielte nur um kleine Einsätze und war ein
prunkliebender Nachbar. „Ludwig XIV. . . .", hörten
schlechter, aber ein ehrgeiziger Spieler. Verlor er, so war das
nem
ihn sagen, „tut dies . . . Ludwig XIV. . . . tut das
schlechte Blatt daran schuld, gewann er, so war es durch seine
bei
Eines Tages kommt Philippe Gille zu Besuch. Man
Geschicklichkeit. Er war auch ein Freund des Billards. Selbst
macht einen gemeinsamen Spaziergang durch die Alleen
hier konnte er über eine Niederlage heftig in Zorn geraten.
ten
von Marly zum Wald hin. „Hier waren einmal," sagte
Ich war dabei, wie er einmal eine Partie im Hause einer be¬
plötzlich Sardou zu Gille, „wundervolle Hagenbuchengänge,
freundeten Familie verlor. Plötzlich hörte man Schreie der Wut
eine
die man entfernte, seit Ludwig XIV. gestorben ist.
und der Verzweiflung. „Das ist Herr Meilhac," sagte einer der
Der Tag neigte sich, und die Spaziergänger kehrten
Gäste, „er ruft eben den Himmel zum Zeugen an, daß noch ne¬
heim. Man setzte sich zu Tisch, aber die Kinder kamen nicht.
jemand solches Pech gehabt habe". — „Ich werde," versichert
Man ging sie suchen. Man fand sie endlich, in Tränen auf¬
er, „wenn dieses Pech nicht aufhört, meinem Leben ein Ende
um
gelöst, und sie erklärten schluchzend, sie würden heute nicht
machen.“ Meilhac tobt weiter, und als die Dame des Hauses,
zu Mittag essen. Man fragte sie nach dem Grund ihres
der er ungemein sympathisch ist, ihm heimlich zuflüstert:
Kummers und sie erwiderten:
„Sie machen sich lächerlich, lieber Meilhac, ruft er laut:
„Nun ja ... ja ... weil... weil Ludwig XIV. ge-
„Natürlich mach ich mich lächerlich, und ich lege Wert darauf,
storben ist.
daß man es öffentlich erfahre. Alle lächerlichen Figuren in
Dieser Erfolg, den Victorien Sardou damals gewann,
meinen Stücken habe ich nach einem Modell geformt¬
ist, glaube ich, der schönste seines Lebens gewesen....
Die
nämlich nach mir selbst.
Niemals hat ein Lustspieldichter eine freimütigere Ant¬
ihm
wort gefunden. Dieses Wortes hätte sich Molière nicht
Durchaus verschieden von ihm, war Henry Meilhac,
schämen müssen.
der gemeinsam mit Ludovic Halévy seine phantasievoll
(Deutsch von Paul Wertheimer.)
im
leichten Stücke schrieb, die bei aller Phantastik voll be¬
obachteter lebensechter Figuren sind. Henry Meilhac war
g
ein ironischer Gemütsmensch, wie ich ihn nennen möchte.
und
Ich sehe noch sein gutes Gesicht, auf dem Heiterkeit in
Wien.
Melancholie hinüberspielte, ein Schauspiel, das uns die
em.
wahren Menschenbeobachter oft gewähren.
Von Georg Brandes.
Meilhac liebte die Gesellschaft, die große Welt
keineswegs. In der Stadt zu speisen, war ihm ein Greuel.
Schon zur Zeit, wo Oesterreich, mit Ungarn verbunden,
und nur seinen intimsten Freunden brachte er dieses Opfer¬
groß und mächtig sich entfaltete, war Wien im Grunde eine
Frau Aubernon, diese vortreffliche Dame, hatte von dieser
Insel. Wieviel mehr jetzt, wo Oesterreich, so viel kleiner ge¬
Abneigung erfahren. Da sie ihn nun zufällig eines Tages
worden, isoliert dasteht
traf, machte sie ihm Vorwürfe: „Ist es wahr, Herr Meilhac
ink
Enthusiasmus ist ein Juwel, das wenige zu tragen ver¬
was man mir erzählt? Sie wollen nicht zu mir auf einen
mögen. Die meisten nehmen sich noch einmal so schäbig und
Besuch kommen und erklären überall, daß die Abende bei
lumpig aus als Enthusiasten. Enthusiasmus ist auch nicht
mir tödlich langweilig sind?" Worauf Meilhac einfach er¬
mein Fach. Aber ich kann nicht ohne Unwahrheit verleugnen,
widerte: „Jawohl, gnädige Frau, so ist es. Aber diese Tat
daß Wien mir immer Enthusiasmus eingeflößt hat.
sache war nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt!
Aus Wien habe ich nur eine Fülle der schönsten Er¬
Meilhac zog es vor, im Restaurant zu speisen. Da
innerungen, und immer sind mir aus dieser Stadt schöne
konnte man selbst den Ort, das Menu, die Gesellschaft
Eindrücke zugeströmt
wählen. Am liebsten aber nahm er seine Mahlzeit allein und
Jeder meiner Leser weiß mehr über Wien als ich, und
betrachtete dabei die Gäste an den anderen Tischen — nach
ich setze mich dem Verdacht aus, durch eine Captatio bene¬
dem Gesicht und dem Gehaben machte er sich von jedem
volentiae jetzt bei meiner Ankunft in der Stadt mir Wohl¬
einzelnen ein Bild von dem Leben, das er wohl führen
mochte, von den Liebhabereien, die ihn wohl erfüllten. Zu wollen gewinnen zu wollen. Das kann aber nur von der Seite