VII, Verschiedenes 12, Schnitzlers Tod, Seite 98


jusschnitt aus: jusschnitt aus:
PCHNTT VOM: PCHNTT VOM:
22 OKI. 193 22 OKI. 193
Inzeiger für Köln und Umgegend, Köln Inzeiger für Köln und Umgegend, Köln
Morgenausgabe Morgenausgabe
Arthur Schnitzler gestorben Arthur Schnitzler gestorben

Vom Spaziergang heimgekehrt, ereilte den Dichter ein plötzlicher Tod Vom Spaziergang heimgekehrt, ereilte den Dichter ein plötzlicher Tod
gestalten seiner Werke den beiden Figuren dieses gestalten seiner Werke den beiden Figuren dieses
Wiener Denkmals. Zwar tragen seine Männer Wiener Denkmals. Zwar tragen seine Männer
selten den Bart dieses barocken Burschen, aber selten den Bart dieses barocken Burschen, aber
sie alle greifen immer wieder nach den Frauen, sie alle greifen immer wieder nach den Frauen,
sie alle wollen die Liebe als den schönen, un¬ sie alle wollen die Liebe als den schönen, un¬
beherrschten Augenblick, sie alle wollen verführen, beherrschten Augenblick, sie alle wollen verführen,
1 aber nicht für die Liebe den Preis der Pflicht 1 aber nicht für die Liebe den Preis der Pflicht
zahlen, sie alle wollen genießen und selten mehr zahlen, sie alle wollen genießen und selten mehr
Und seine Frauen sträuben sich, aber nicht lange Und seine Frauen sträuben sich, aber nicht lange
sie alle folgen ihrem Gefühl, sie kennen keine sie alle folgen ihrem Gefühl, sie kennen keine
Hemmung, keine Feigheit, und so stürzen sie in Hemmung, keine Feigheit, und so stürzen sie in
Schuld und Elend, aber sie sind groß im Sturz, Schuld und Elend, aber sie sind groß im Sturz,
denn wenn sie die Liebe wollen, wollen sie auch denn wenn sie die Liebe wollen, wollen sie auch
alle von ihr unlöslichen Verstrickungen. Männer, alle von ihr unlöslichen Verstrickungen. Männer,
die verführen, aber nicht lieben, und Frauen die verführen, aber nicht lieben, und Frauen
die verführt werden, weil sie lieben: diese Grund¬ die verführt werden, weil sie lieben: diese Grund¬
züge durchziehen die Bücher des Wieners Arthur züge durchziehen die Bücher des Wieners Arthur
Schnitzler vom ersten bis zum letzten, in immer Schnitzler vom ersten bis zum letzten, in immer
neuen Wandlungen, aber doch im gleichen Takt. neuen Wandlungen, aber doch im gleichen Takt.
und so ist jene Figur von Mattielli, anderthalb und so ist jene Figur von Mattielli, anderthalb
Jahrhundert vor Schnitzler, wie ein Zeichen seiner Jahrhundert vor Schnitzler, wie ein Zeichen seiner
Welt. Welt.
Es ist kein Zufall, doß der Naturalismus in Es ist kein Zufall, doß der Naturalismus in
Wien nicht die graue Alltagsfarbe bekam, wie in Wien nicht die graue Alltagsfarbe bekam, wie in
Berlin; Schnitzler, der mit und vor andern diese Berlin; Schnitzler, der mit und vor andern diese
Bewegung nach Österreich brachte, lebte in einer Bewegung nach Österreich brachte, lebte in einer
Stadt, die damals so mächtig und so heiter war, Stadt, die damals so mächtig und so heiter war,
daß man für das Grau in Grau dort kein Ver daß man für das Grau in Grau dort kein Ver
ständnis hatte. Aber Schnitzler trug die Skepsis ständnis hatte. Aber Schnitzler trug die Skepsis
Wien, 21. Oktober. (Telegr.) Wien, 21. Oktober. (Telegr.)
Arthur Schnitzler ist heule abend im Arthur Schnitzler ist heule abend im
Aller von 69 Jahren in seiner Villa in Döb¬ Aller von 69 Jahren in seiner Villa in Döb¬
ling bei Wien überraschend an Gehirn¬ ling bei Wien überraschend an Gehirn¬
blutung gestorben. In den letzten blutung gestorben. In den letzten
zwei Jahren hat er wohl gelegentlich über zwei Jahren hat er wohl gelegentlich über
Beschwerden geklagt, ist aber niemals Beschwerden geklagt, ist aber niemals
eigenklich krank gewesen. Heute vormittag eigenklich krank gewesen. Heute vormittag
machte er einen Spaziergang und kehrte machte er einen Spaziergang und kehrte
gegen 11 Uhr nach Hause zurück. Um gegen 11 Uhr nach Hause zurück. Um
11.15 Uhr fand ihn seine Sekrekärin be¬ 11.15 Uhr fand ihn seine Sekrekärin be¬
wußtlos am Boden liegend vor. wußtlos am Boden liegend vor.
Schnitzler hat seildem das Bewußksein nichl Schnitzler hat seildem das Bewußksein nichl
wiedererlangt. Gegen Abend trat Atem¬ wiedererlangt. Gegen Abend trat Atem¬
lähmung ein, die dann zum Tode führte. lähmung ein, die dann zum Tode führte.
Er hat nicht zu leiden brauchen; seines nahen Er hat nicht zu leiden brauchen; seines nahen
Todes ist er sich keinen Augenblick bewußt Todes ist er sich keinen Augenblick bewußt
gewesen. gewesen.
Von dem Bildhauer Mattielli, einem virtuosen Von dem Bildhauer Mattielli, einem virtuosen
Meister des Barocks, der in Wien die Taten des Meister des Barocks, der in Wien die Taten des
Herkules auf dem Reichskanzleitrakt der Hofburg Herkules auf dem Reichskanzleitrakt der Hofburg
gebildet und stürmisch bewegte Hochreliefs am gebildet und stürmisch bewegte Hochreliefs am
Portal des Finanzministeriums gesetzt hat — von Portal des Finanzministeriums gesetzt hat — von
diesem Lorenzo Mattielli also steht im Schwarzen¬ diesem Lorenzo Mattielli also steht im Schwarzen¬
bergpark eine große Gartenskulptur, eine von bergpark eine große Gartenskulptur, eine von
mehrern mit demselben Thema. Ein faunisch¬ mehrern mit demselben Thema. Ein faunisch¬
bärtiger Mann greift einem Mädchen um die bärtiger Mann greift einem Mädchen um die
Hüfte, um sie zu entführen; sie sträubt sich. Aber Hüfte, um sie zu entführen; sie sträubt sich. Aber
während der eine Arm sich gegen den Kopf des während der eine Arm sich gegen den Kopf des
rauhen Burschen stemmt, drückt der andre seine rauhen Burschen stemmt, drückt der andre seine
unter der Brust her zufassende Hand nicht kräftig unter der Brust her zufassende Hand nicht kräftig
genug fort Sie kämpft mit halber Kraft; bald genug fort Sie kämpft mit halber Kraft; bald
wird sie erliegen. Schon schlagen aus dem wird sie erliegen. Schon schlagen aus dem
Stein ausgehauen Flammen empor — so pracht¬ Stein ausgehauen Flammen empor — so pracht¬
volle Selbstherrlichkeit des Barocks —, schon volle Selbstherrlichkeit des Barocks —, schon
rauscht der wildgebauschte Mantel zur Erde. Ich rauscht der wildgebauschte Mantel zur Erde. Ich
weiß nicht, ob Arthur Schnitzler dieses weiß nicht, ob Arthur Schnitzler dieses
Standbild in einem der schönen Parke seiner Standbild in einem der schönen Parke seiner
Vaterstadt oftmals betrachtet hat — es könnte Vaterstadt oftmals betrachtet hat — es könnte
aber, ins Schwarz=Weiß der Graphik übersetzt, aber, ins Schwarz=Weiß der Graphik übersetzt,
in jedem seiner Bücher zur Vignette, zum Rah¬ in jedem seiner Bücher zur Vignette, zum Rah¬
men des Anfangsbuchstabens oder zum Lefezeichen men des Anfangsbuchstabens oder zum Lefezeichen
Dienen. Dienen.
Denn in enon Brundvn gechen die haun¬ Denn in enon Brundvn gechen die haun¬
maet nd mnre de e dun do maet nd mnre de e dun do
möglich war, die schwere Last einer Sonder¬ möglich war, die schwere Last einer Sonder¬
stellung, die Not einer gesellschaftlichen Ver stellung, die Not einer gesellschaftlichen Ver
semung gestaltet so, wie sie sich aus den Wiener semung gestaltet so, wie sie sich aus den Wiener
Verhältnissen ergab. Und der besondere Vorzug Verhältnissen ergab. Und der besondere Vorzug
jüdischen Geistes, die Fähigkeit der Abstraktion, jüdischen Geistes, die Fähigkeit der Abstraktion,
zeigt sich in einem Versuch, in dem Schnitzler mit zeigt sich in einem Versuch, in dem Schnitzler mit
Hilfe eines Diagramms eine Einteilung der Hilfe eines Diagramms eine Einteilung der
Menschen einzeln und insgesamt versucht. Menschen einzeln und insgesamt versucht.
Die ersten Dichtungen Schnitzlers, die Quatol¬ Die ersten Dichtungen Schnitzlers, die Quatol¬
Szenen, werden bleiben als eine echtbürtige Ver Szenen, werden bleiben als eine echtbürtige Ver
körperung des Wienertums mit seinen Frauen, körperung des Wienertums mit seinen Frauen,
die den ganzen und seinen Mänern, die immen die den ganzen und seinen Mänern, die immen
nur den halben Einsatz wagen; die Christine der nur den halben Einsatz wagen; die Christine der
„Liebelei“ wird noch lange ihren erschütternden „Liebelei“ wird noch lange ihren erschütternden
Aufschrei tun. Und auch der Professor Bern Aufschrei tun. Und auch der Professor Bern
hardi wird als Zeugnis der heimlichen, immer hardi wird als Zeugnis der heimlichen, immer
wieder offenbar werdenden Tragödie des Arzt¬ wieder offenbar werdenden Tragödie des Arzt¬
tums gelten, wenn die romantierenden Spiele um tums gelten, wenn die romantierenden Spiele um
Medardus und um Beatrice, und wenn die effekt¬ Medardus und um Beatrice, und wenn die effekt¬
volle Theaierei des Grünen Kakadus vergessen volle Theaierei des Grünen Kakadus vergessen
sind. Der Erzähler Schnitzler hat manches, im sind. Der Erzähler Schnitzler hat manches, im
Guten und im bösen modernes Schicksal aus den Guten und im bösen modernes Schicksal aus den
Gewalten des Eros entwickelt, die Leiden des Gewalten des Eros entwickelt, die Leiden des
Badearztes Gräser, die Schicksale des alternden Badearztes Gräser, die Schicksale des alternden
Casanovas, Fräulein Elsas bitteres Opfer Casanovas, Fräulein Elsas bitteres Opfer
immer. wieder tönt die Grundmelodie von der immer. wieder tönt die Grundmelodie von der
Bitterkeit aller Liebeslust. Und so stieß der Streit Bitterkeit aller Liebeslust. Und so stieß der Streit
um den „Reigen“ in den ersten Nachkriegsjahren um den „Reigen“ in den ersten Nachkriegsjahren
als eine neue Abwandlung der von Schnitzler als eine neue Abwandlung der von Schnitzler
immer schon behandelten Fragen, insofern ins immer schon behandelten Fragen, insofern ins
Leere, als man damals überall wirklich gemeine Leere, als man damals überall wirklich gemeine
Zeitschriften ungehindert feilhielt, mit denen das Zeitschriften ungehindert feilhielt, mit denen das
das verootene Stück nicht einmal den schema¬ das verootene Stück nicht einmal den schema¬
tischen Stoff teilte. tischen Stoff teilte.
Schnitzler ging auf den 70. Geburtstag an, als Schnitzler ging auf den 70. Geburtstag an, als
ihn der Tod ereilte. Er hat die Gratulanten ihn der Tod ereilte. Er hat die Gratulanten
nicht mehr zu sehen brauchen, die sich an einem nicht mehr zu sehen brauchen, die sich an einem
solchen Tag im Ruhm des Gefeierten mitsonnen; solchen Tag im Ruhm des Gefeierten mitsonnen;
nicht die Festaufführungen an Theatern, die ihm nicht die Festaufführungen an Theatern, die ihm
verschlossen waren, als er die Aufführungen noch verschlossen waren, als er die Aufführungen noch
nötig hatte; und nicht einmal die nach dem übeln nötig hatte; und nicht einmal die nach dem übeln
Dezimalsystem der Dichterehrung errechneten Leit¬ Dezimalsystem der Dichterehrung errechneten Leit¬
aufsätze über sich und sein Werk. Vermutlich war aufsätze über sich und sein Werk. Vermutlich war
ihm das recht, vermutlich ist es ihm ebenso recht, ihm das recht, vermutlich ist es ihm ebenso recht,
daß er keine Nachrufe zu lesen braucht; vermut¬ daß er keine Nachrufe zu lesen braucht; vermut¬
lich ist es ihm gleichgültig, daß Blumen auf seinem lich ist es ihm gleichgültig, daß Blumen auf seinem
Sarg liegen — er wußte lebend schon, wie schnell Sarg liegen — er wußte lebend schon, wie schnell
sie welken! sie welken!
Was eben noch Blüte gewesen, welkt nun dahin: Was eben noch Blüte gewesen, welkt nun dahin:
das war sein Grunderlebnis von dieser Welt - das war sein Grunderlebnis von dieser Welt -
und so hatte er wohl auch den eignen Tod darin und so hatte er wohl auch den eignen Tod darin
einbezogen, er, der Sänger des süßen Liebesspiels. einbezogen, er, der Sänger des süßen Liebesspiels.
Otto Brües. Otto Brües.