VII, Verschiedenes 12, Schnitzlers Tod, Seite 220

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12. Schnitzler's Death 12. Schnitzler's Death
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Deutsche Tageszeitung Berlin Deutsche Tageszeitung Berlin
Nr. 1 64 vom. Nr. 1 64 vom.
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eigenen Rasse weich, melancholisch, sentimental, aber sehr bewußt eigenen Rasse weich, melancholisch, sentimental, aber sehr bewußt
durchgeführt. durchgeführt.
Der Dramaliker der Müdigkeil. Der Dramaliker der Müdigkeil.
Im „Anatol“ setzt das Spiel mit der Erotik ein; im „Reigen“ Im „Anatol“ setzt das Spiel mit der Erotik ein; im „Reigen“
Zum Tode Arthur Schnitzlers. Zum Tode Arthur Schnitzlers.
dessen Aufführung 1924 in Berlin zum Theaterskandal führte, dessen Aufführung 1924 in Berlin zum Theaterskandal führte,
Im Alter von 69 Jahren ist, wie wir berichteten, der Wiener Im Alter von 69 Jahren ist, wie wir berichteten, der Wiener
ist das Erotische satirisch und soziologisch auf einen Nenner ge¬ ist das Erotische satirisch und soziologisch auf einen Nenner ge¬
Dramatiker und Erzähler Dr. Arthur Schnitzler gestorben. Für Dramatiker und Erzähler Dr. Arthur Schnitzler gestorben. Für
bracht: auf die brutale illusionslose Sexualität. In fast allen bracht: auf die brutale illusionslose Sexualität. In fast allen
die Theaterdirektoren von heute ist er längst in den Literatur¬ die Theaterdirektoren von heute ist er längst in den Literatur¬
Stücken Schnitzlers steht das erotische Problem, das Verhältnis Stücken Schnitzlers steht das erotische Problem, das Verhältnis
geschichten begraben und sie kümmerten sich kaum noch um ihn. geschichten begraben und sie kümmerten sich kaum noch um ihn.
Mann und Weib im Vordergrund und die Liebe wird nur von Mann und Weib im Vordergrund und die Liebe wird nur von
Doch vor einem Menschenalter, in der Blütezeit der Ibsen, Doch vor einem Menschenalter, in der Blütezeit der Ibsen,
dem Manne aus gesehen, dem sie nichts als Episode ist. Das dem Manne aus gesehen, dem sie nichts als Episode ist. Das
Hauptmann, Hofmannsthal gehörte Schnitzler zu den meistge¬ Hauptmann, Hofmannsthal gehörte Schnitzler zu den meistge¬
Auseinanderleben der Eheleute im „Zwischenspiel“, die tragische Auseinanderleben der Eheleute im „Zwischenspiel“, die tragische
spielten Dramatikern. Mit der „Liebelei“ hatte Schnitzler den spielten Dramatikern. Mit der „Liebelei“ hatte Schnitzler den
Komödie der Familie im „Weiten Land“ sind Themen, die, wenn Komödie der Familie im „Weiten Land“ sind Themen, die, wenn
ersten großen Erfolg, mit jenem schwermütigen, sentimental ersten großen Erfolg, mit jenem schwermütigen, sentimental
auch fragmentarisch oder variiert, in anderen Stücken und Er¬ auch fragmentarisch oder variiert, in anderen Stücken und Er¬
durchzogenen Schauspiel vom süßen Wiener Mädel, das in der durchzogenen Schauspiel vom süßen Wiener Mädel, das in der
zählungen Schnitzlers wiederkehren. Schnitzler war auch bei seinen zählungen Schnitzlers wiederkehren. Schnitzler war auch bei seinen
weichen, schwülen, von Sorgen nicht beschwerten Luft der goldenen weichen, schwülen, von Sorgen nicht beschwerten Luft der goldenen
dramatischen Ausflügen in die Historie vom Glück begünstigt. Das dramatischen Ausflügen in die Historie vom Glück begünstigt. Das
Jugend Wiens zugrunde geht. Dieses Schauspiel und die vor¬ Jugend Wiens zugrunde geht. Dieses Schauspiel und die vor¬
Nenaissancestück „Der Schleier der Beatrice“, der Revolutionsakt Nenaissancestück „Der Schleier der Beatrice“, der Revolutionsakt
her entstandenen Szenen „Anatol“ sind bezeichnend für die her entstandenen Szenen „Anatol“ sind bezeichnend für die
„Der grüne Kakadu“, das Drama aus der Napoleonszeit „Der „Der grüne Kakadu“, das Drama aus der Napoleonszeit „Der
Schnitzlersche Art: für seine wienerische Lebensauffassung, seine Schnitzlersche Art: für seine wienerische Lebensauffassung, seine
junge Medardo“ beweisen, wie viele andere Stücke Schnitzlers, daß junge Medardo“ beweisen, wie viele andere Stücke Schnitzlers, daß
schwankende Ethik, seine tiefe Melancholie, seinen selbstquäle¬ schwankende Ethik, seine tiefe Melancholie, seinen selbstquäle¬
er ein geschickter, ja gerissener, auch auf den Effekt hin arbeitender er ein geschickter, ja gerissener, auch auf den Effekt hin arbeitender
rischen Pessimismus. Man könnte ihn den Dramatiker der Liebe¬ rischen Pessimismus. Man könnte ihn den Dramatiker der Liebe¬
Bühnentechniker gewesen ist, vor dem viele dramatische Stammler, Bühnentechniker gewesen ist, vor dem viele dramatische Stammler,
lei nennen, denn das Wort Liebe ist in fast allen seinen Stücken, lei nennen, denn das Wort Liebe ist in fast allen seinen Stücken,
die sich heute auf den Brettern blähen dürfen, noch allerlei lernen die sich heute auf den Brettern blähen dürfen, noch allerlei lernen
auch in den Erzählungen, nur eine Vokabel ohne gewichtigen auch in den Erzählungen, nur eine Vokabel ohne gewichtigen
könnten. könnten.
Inhalt, ein spielerischer Begriff, eben: Liebelei. Es gibt bei Inhalt, ein spielerischer Begriff, eben: Liebelei. Es gibt bei
Schnitzler war ein geistiger Nachbar Sigmund Freuds, des Schnitzler war ein geistiger Nachbar Sigmund Freuds, des
Schnitzler nicht die große Leidenschaft, weil bei ihm auch die Schnitzler nicht die große Leidenschaft, weil bei ihm auch die
Schöpfers der problematischen Psychoanalyse. In der Erzählung Schöpfers der problematischen Psychoanalyse. In der Erzählung
große Tat fehlt. Alles wird zur Illusion, die dann der Intellekt große Tat fehlt. Alles wird zur Illusion, die dann der Intellekt
„Fräulein Else", die durch die Verfilmung, mit Elisabeth Berg¬ „Fräulein Else", die durch die Verfilmung, mit Elisabeth Berg¬
zertrümmert oder vor der er sich müde zurückzieht, weil er ihre zertrümmert oder vor der er sich müde zurückzieht, weil er ihre
ner in der Titelrolle, in weite Kreise gedrungen ist, spielt die ner in der Titelrolle, in weite Kreise gedrungen ist, spielt die
Kraftlosigkeit nicht ertragen kann. Kraftlosigkeit nicht ertragen kann.
psychoanalytische „Selbsterkenntnis" eine wichtige Rolle. Schnitz¬ psychoanalytische „Selbsterkenntnis" eine wichtige Rolle. Schnitz¬
Man darf nicht vergessen, daß Schnitzler in vielen seiner Man darf nicht vergessen, daß Schnitzler in vielen seiner
ler, der Arzt, war als Seelenanalytiker durchaus Naturforscher, ler, der Arzt, war als Seelenanalytiker durchaus Naturforscher,
Stücke auf den Wegen Ibsens ging; aber Ibsens logisch knifflige Stücke auf den Wegen Ibsens ging; aber Ibsens logisch knifflige
den mystische Untergründe des Lebens mehr reizten als metaphy¬ den mystische Untergründe des Lebens mehr reizten als metaphy¬
Dialektik, Ibsens getüftelte Gesellschaftskritik wurde von Schnitzler Dialektik, Ibsens getüftelte Gesellschaftskritik wurde von Schnitzler
sisch beunruhigten. sisch beunruhigten.
Hugo Kubsc. Hugo Kubsc.
ins Spielerische umgebogen. Bei Ibsen haben die Menschen, ins Spielerische umgebogen. Bei Ibsen haben die Menschen,
selbst wenn sie oft nichts anderes tun, als ihr eigenes Wesen selbst wenn sie oft nichts anderes tun, als ihr eigenes Wesen
grüblerisch zu zersetzen, noch einen Beruf, der sie zuweilen in grüblerisch zu zersetzen, noch einen Beruf, der sie zuweilen in
tragische Konflikte treibt; bei Schnitzler bummeln sie durch¬ tragische Konflikte treibt; bei Schnitzler bummeln sie durch¬
Dasein, gehen am tätigen Leben vorbei und es ist im Grunde Dasein, gehen am tätigen Leben vorbei und es ist im Grunde
gleichgültig, ob sie sich Glühstrumpffabrikanten, Gutsbesitzer oder gleichgültig, ob sie sich Glühstrumpffabrikanten, Gutsbesitzer oder
Bankiers nennen. Es sind Arbeitslose, die zu leben haben und Bankiers nennen. Es sind Arbeitslose, die zu leben haben und
nebenbei so viel Geist, daß sie ihn großmütig verschwenden. In nebenbei so viel Geist, daß sie ihn großmütig verschwenden. In
drei bis fünf Akten läßt er sich oft gut unterbringen. Schnitzler drei bis fünf Akten läßt er sich oft gut unterbringen. Schnitzler
verstand das und damit dieser „Ueberfluß an Geist“ nicht depla¬ verstand das und damit dieser „Ueberfluß an Geist“ nicht depla¬
ciert war, hat er sehr oft einen Schriftsteller zum lässigen Rai¬ ciert war, hat er sehr oft einen Schriftsteller zum lässigen Rai¬
sonneur seiner Stücke gemacht. sonneur seiner Stücke gemacht.
Erotik und Ressentiment sind zwei wesentliche Faktoren in Erotik und Ressentiment sind zwei wesentliche Faktoren in
Schnitzlers Schaffen. Sie sind rassisch bedingt. Schnitzler hat Schnitzlers Schaffen. Sie sind rassisch bedingt. Schnitzler hat
sein Judentum stets stolz bekannt, er glaubte an seine Kraft und sein Judentum stets stolz bekannt, er glaubte an seine Kraft und
er sah auch seine Grenzen. Trotz aller Resignation, trotz aller er sah auch seine Grenzen. Trotz aller Resignation, trotz aller
Müdigkeit, die sich aus der Skepsis nährte, war er sich der Kraft Müdigkeit, die sich aus der Skepsis nährte, war er sich der Kraft
des „Unterdrückten" bewußt und in seiner Arztkomödie „Pro¬ des „Unterdrückten" bewußt und in seiner Arztkomödie „Pro¬
fessor Vernardi" wird die These von der Ueberlegenheit der fessor Vernardi" wird die These von der Ueberlegenheit der