VII, Verschiedenes 12, Schnitzlers Tod, Seite 352

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Also spielen wir Theater, Also spielen wir Theater,
Spielen unsere eigenen Stücke, Spielen unsere eigenen Stücke,
Früh gereift und zart und traurig, Früh gereift und zart und traurig,
Die Komödie unserer Seele, Die Komödie unserer Seele,
Unseres Fühlen heut und gestern, Unseres Fühlen heut und gestern,
Böser Dinge hübsche Formel, Böser Dinge hübsche Formel,
Glatte Worte, bunte Bilder, Glatte Worte, bunte Bilder,
Halbes, heimliches Empfinden, Halbes, heimliches Empfinden,
Agonien, Episoden Agonien, Episoden
Die umfangreichste Leistung Schnitzlers ist mit wenigen Die umfangreichste Leistung Schnitzlers ist mit wenigen
berühmten Titeln geistig abgesteckt: „Anatol“ (1893), „Liebelei berühmten Titeln geistig abgesteckt: „Anatol“ (1893), „Liebelei
(1895), „Leutnant Gustl“ (1901), „Zwischenspiel“ (1905), (1895), „Leutnant Gustl“ (1901), „Zwischenspiel“ (1905),
„Comtesse Mizzi“ (1909), „Professor Bernardi“ (1912), „Fräu¬ „Comtesse Mizzi“ (1909), „Professor Bernardi“ (1912), „Fräu¬
lein Else" (1924). Ich nenne noch „Traum=Novelle" und „Reigen“. lein Else" (1924). Ich nenne noch „Traum=Novelle" und „Reigen“.
Wenige Dichter können wie Schnitzler mit der Vertrautheil Wenige Dichter können wie Schnitzler mit der Vertrautheil
dieser Titel rechnen und mehr: mit ihrer stofflichen Ausstrahlung. dieser Titel rechnen und mehr: mit ihrer stofflichen Ausstrahlung.
Denn Schnitzler hat nicht nur Dramen und Erzählungen ge¬ Denn Schnitzler hat nicht nur Dramen und Erzählungen ge¬
dichtet, die Literatur blieben, sondern er schuf Typen, die in dichtet, die Literatur blieben, sondern er schuf Typen, die in
unserem Bewußtsein gültige Rolle spielen: nämlich die Komödie unserem Bewußtsein gültige Rolle spielen: nämlich die Komödie
der Liebe und des Sterbens der sentimentalen Seele in Rein¬ der Liebe und des Sterbens der sentimentalen Seele in Rein¬
kultur. „Im „Anatol" steht jeweilen der graziös ungetreue Lieb¬ kultur. „Im „Anatol" steht jeweilen der graziös ungetreue Lieb¬
haber im Dialog mit dem graziös skeptischen Freunde Max haber im Dialog mit dem graziös skeptischen Freunde Max
vor dem jeweiligen Liebesverhältnis. Der eine spricht von seiner vor dem jeweiligen Liebesverhältnis. Der eine spricht von seiner
bedürftigen Seele, die sich selber davonläuft; der andere gibt bedürftigen Seele, die sich selber davonläuft; der andere gibt
klug wie ein Mediziner den mephistophelischen Kommentar. klug wie ein Mediziner den mephistophelischen Kommentar.
Dr. med. Schnitzler ist Dichter und Arzt: er ist Anatol und Max. Dr. med. Schnitzler ist Dichter und Arzt: er ist Anatol und Max.
Er spielt auch sämtliche Personen im „Reigen", jenem schein¬ Er spielt auch sämtliche Personen im „Reigen", jenem schein¬
frivolen Karussell der Liebe, wo jeder Stand und jede Art von frivolen Karussell der Liebe, wo jeder Stand und jede Art von
Liebhaber sich mit jedem Stand und jeder Art von Liebhaberin Liebhaber sich mit jedem Stand und jeder Art von Liebhaberin
sich einläßt zum Liebesspiel. Im Wien des fin de siecle gab es noch sich einläßt zum Liebesspiel. Im Wien des fin de siecle gab es noch
„Stände" und daher auch Standeskonflikte. Infolgedessen „Stände" und daher auch Standeskonflikte. Infolgedessen
konnte man um seiner Standesehre willen ernsthaft an Selbsi¬ konnte man um seiner Standesehre willen ernsthaft an Selbsi¬
mord denken wie „Leutnant Gustl“ oder wie im gemeinen Sinne mord denken wie „Leutnant Gustl“ oder wie im gemeinen Sinne
auch das unglückliche „Fräulein Else“. Daß so einfachen Gemü¬ auch das unglückliche „Fräulein Else“. Daß so einfachen Gemü¬
tern die innere Psychologie nicht klar und bewußt ablief, wußte tern die innere Psychologie nicht klar und bewußt ablief, wußte
Schnitzler wie kein zweiter deutscher Dichter des Naturalismus. Schnitzler wie kein zweiter deutscher Dichter des Naturalismus.
Er hat seine Medizin spürende, ja seine spezifisch jüdische Ein¬ Er hat seine Medizin spürende, ja seine spezifisch jüdische Ein¬
fühlungskraft bei den naivsten Typen der „Gesellschaft" eingesetzt. fühlungskraft bei den naivsten Typen der „Gesellschaft" eingesetzt.
Er schrieb, wie jener große andere Wiener, Siegmund Freud, Er schrieb, wie jener große andere Wiener, Siegmund Freud,
die penibelste Psychoanalyse, zerlegte den Menschen in Atome, die penibelste Psychoanalyse, zerlegte den Menschen in Atome,
in Nuancen! und setzte den Menschen nach der Zerlegung als in Nuancen! und setzte den Menschen nach der Zerlegung als
Dichter wieder zusammen zu einem ganzen, das nicht etwa Dichter wieder zusammen zu einem ganzen, das nicht etwa
nur eine „Summe von Nuancen“ sah (Gefahr der damaligen nur eine „Summe von Nuancen“ sah (Gefahr der damaligen
naturalistischen Methode); sondern im totalen Wesen des Seelen¬ naturalistischen Methode); sondern im totalen Wesen des Seelen¬
arztes Schnitzler werden die Teile zu einem Organismus: reif arztes Schnitzler werden die Teile zu einem Organismus: reif
zum Komödienspiel des Daseins. zum Komödienspiel des Daseins.
Kaum einer in Deutschland hatte jemals so die dramatische Kaum einer in Deutschland hatte jemals so die dramatische
Grazie und das leichteste Können vor schweren und problemati¬ Grazie und das leichteste Können vor schweren und problemati¬
schen Themata. Schnitzler spielte mit der Schwere. Er hat, wie schen Themata. Schnitzler spielte mit der Schwere. Er hat, wie
niemand auf der deutschen Bühne französische Technik mit niemand auf der deutschen Bühne französische Technik mit
deutschem Sentiment gehandhabt. Die Problematik war an deutschem Sentiment gehandhabt. Die Problematik war an
Ibsen geschult. „Zwischenspiel“, die Tragikomödie der sierbenden Ibsen geschult. „Zwischenspiel“, die Tragikomödie der sierbenden
Liebe zweier Menschen, die an die Ewigkeit ihres Gefühls glau¬ Liebe zweier Menschen, die an die Ewigkeit ihres Gefühls glau¬
ben wollen, ist eine Tragödie mit Tiefenwirkung, und oennoch ben wollen, ist eine Tragödie mit Tiefenwirkung, und oennoch
ein Puppenspiel. Ibsen wird geistig jongliert. Der Dichter in ein Puppenspiel. Ibsen wird geistig jongliert. Der Dichter in
Schnitzler gibt sich weicher im Schmerz hin als jemals der harte Schnitzler gibt sich weicher im Schmerz hin als jemals der harte
Ibsen. Aber er distanziert sich als Spieler und Träumer vor dem Ibsen. Aber er distanziert sich als Spieler und Träumer vor dem
Einzelfall, wie niemals ein Ibsen, der schwerer lebte und nicht Einzelfall, wie niemals ein Ibsen, der schwerer lebte und nicht
träumte. Ibsen hielt Gerichtstag mit der Menschheit ab. Schnitzler träumte. Ibsen hielt Gerichtstag mit der Menschheit ab. Schnitzler
feierte Versöhnungsfeste mit dem Leid, mit der Schwäche, feierte Versöhnungsfeste mit dem Leid, mit der Schwäche,
mit dem Tode. Ibsen forderte Moral für die Seele. Schnitzler mit dem Tode. Ibsen forderte Moral für die Seele. Schnitzler
rechtfertigte die Seele für ihre moralische Schwäche. Der Medi¬ rechtfertigte die Seele für ihre moralische Schwäche. Der Medi¬
ziner begreift die Schwäche besser als die starke. Die Psychoana¬ ziner begreift die Schwäche besser als die starke. Die Psychoana¬
lyse fordert nicht. Sie versteht alles und verzeiht alles. lyse fordert nicht. Sie versteht alles und verzeiht alles.
Schnitzler bleibt einer der großen Repräsentanten der deut¬ Schnitzler bleibt einer der großen Repräsentanten der deut¬
schen Literatur. Er stand zwischen wissenschaftlichem Realismus schen Literatur. Er stand zwischen wissenschaftlichem Realismus
und lyrischer Empfindsamkeit. Weniger energisch und kulturell und lyrischer Empfindsamkeit. Weniger energisch und kulturell
produktiv als ein Wedekind, der seine Epoche total ändern wollte; produktiv als ein Wedekind, der seine Epoche total ändern wollte;
weniger im Chaos des Leides umgetrieben wie der jüngere Haupt¬ weniger im Chaos des Leides umgetrieben wie der jüngere Haupt¬
mann des „Fuhrmann Henschel“; weniger dramatisch-aktiv, als mann des „Fuhrmann Henschel“; weniger dramatisch-aktiv, als
es die Pädagogik der Zeit wohl erfordert hätte — stellte Schnitzler es die Pädagogik der Zeit wohl erfordert hätte — stellte Schnitzler
nur um so deutlicher den damaligen Zeit=Typus des müden nur um so deutlicher den damaligen Zeit=Typus des müden
Europäers dar, des hochbegabten und hochbelasteten Erben Europäers dar, des hochbegabten und hochbelasteten Erben
eines hochbegabten und schwer belasteten Erdteils. Ein Erbe der eines hochbegabten und schwer belasteten Erdteils. Ein Erbe der
faustischen Zerrissenheit, der sich im halbromantischen Spiel faustischen Zerrissenheit, der sich im halbromantischen Spiel
über den Schmerz des Untergangs zu trösten wußte. Er schuf über den Schmerz des Untergangs zu trösten wußte. Er schuf
Dichtung als Trost, als Lebens=Ergänzung, als Traum=Glück im Dichtung als Trost, als Lebens=Ergänzung, als Traum=Glück im
Unglück der Wirklichkeit. Die Schrecken des Daseins werden Unglück der Wirklichkeit. Die Schrecken des Daseins werden
romantisch ins Werk gebannt. Alles wird durch und durch er¬ romantisch ins Werk gebannt. Alles wird durch und durch er¬
kannt, verstanden, verziehen, mitgelitten — und distanziert. So kannt, verstanden, verziehen, mitgelitten — und distanziert. So
entstand in „Liebelei“ ein Spiel von vier Menschen, zwei Frauen entstand in „Liebelei“ ein Spiel von vier Menschen, zwei Frauen
und zwei Männern, die nicht nur „Wien“ ausdrücken, sondern und zwei Männern, die nicht nur „Wien“ ausdrücken, sondern
das Spiel der Liebe mit den vier ewigen Liebhabertypen- das Spiel der Liebe mit den vier ewigen Liebhabertypen-
zwischen den zwischen den
naio und sentimental, männlich und weiblich naio und sentimental, männlich und weiblich
Kulissen der Tragik und der Komik darstellen. Es braucht einen Kulissen der Tragik und der Komik darstellen. Es braucht einen
weiten, weltweiten Horizont der Menschenerkenntnis, um solch weiten, weltweiten Horizont der Menschenerkenntnis, um solch
ein Drama zu vollenden, in dem ein jeder Mensch die Spuren ein Drama zu vollenden, in dem ein jeder Mensch die Spuren
seiner eigenen Seele findet. Die Konvention des 19. Jahrhun¬ seiner eigenen Seele findet. Die Konvention des 19. Jahrhun¬
derts dient hier ja nur als Stoff und Beispiel für die gesamte derts dient hier ja nur als Stoff und Beispiel für die gesamte
comédie humaine. Die Tracht tut wenig zur Sache. Die Seele comédie humaine. Die Tracht tut wenig zur Sache. Die Seele
muß getroffen werden. Der große Arzt, der große Dichter, der muß getroffen werden. Der große Arzt, der große Dichter, der
große Menschenkenner Schnitzler traf die Seele des alten Euro¬ große Menschenkenner Schnitzler traf die Seele des alten Euro¬
päers im Uebergang zur Relativität der neuen Zeit, die die päers im Uebergang zur Relativität der neuen Zeit, die die
Träume Europas bewußt machte. Im kritischen Bewußtmachen Träume Europas bewußt machte. Im kritischen Bewußtmachen
der Seele war auch Schnitzler durchaus ein Kritiker seiner Zeit der Seele war auch Schnitzler durchaus ein Kritiker seiner Zeit
und ein Dichter des gegenwärtigen Lebens. und ein Dichter des gegenwärtigen Lebens.
Bernhard Diebold, in der Frankfurter Zeitg. Bernhard Diebold, in der Frankfurter Zeitg.
Die Sernakonate Die Sernakonate
Roman von J. Schneider-Jocstel Roman von J. Schneider-Jocstel
„Ich komme! — — Ganz sicher komme ich," stieß er vor „Ich komme! — — Ganz sicher komme ich," stieß er vor
sich hin. sich hin.
Ueber dem Brief der Schwester hatte er die weitere Kor¬ Ueber dem Brief der Schwester hatte er die weitere Kor¬
respondenz vollkommen übersehen. Als er nun Ronalds charak¬ respondenz vollkommen übersehen. Als er nun Ronalds charak¬
teristische Buchstaben auf einer Hülle gewahrte, brannte seine teristische Buchstaben auf einer Hülle gewahrte, brannte seine
Neugierde lichterloh und als er den Brief gelesen hatte, lachte er Neugierde lichterloh und als er den Brief gelesen hatte, lachte er
verständnisvoll. Ja, mein lieber guter Junge, man muß seine verständnisvoll. Ja, mein lieber guter Junge, man muß seine
Erfahrungen machen. Das blieb keinem erspart. Man mußte Erfahrungen machen. Das blieb keinem erspart. Man mußte
nur die Lehre, die das Leben gab, beherzigen, dann erklomm man nur die Lehre, die das Leben gab, beherzigen, dann erklomm man
den Gipfel der Weisheit doch noch, trotz allen Abirrens. den Gipfel der Weisheit doch noch, trotz allen Abirrens.
Als Tandey nach Mitternacht nach Hause kam, fand er Als Tandey nach Mitternacht nach Hause kam, fand er
Ronalds Brief nicht mehr auf dem Platze, wo er ihn hingelegt Ronalds Brief nicht mehr auf dem Platze, wo er ihn hingelegt
hatte. Der Schreibtisch war wieder fein säuberlich verschlossen, hatte. Der Schreibtisch war wieder fein säuberlich verschlossen,
auch das Zimmer versperrt. Nichts deutete auf einen neuen Ein¬ auch das Zimmer versperrt. Nichts deutete auf einen neuen Ein¬
bruch hin. bruch hin.
Er klingelte nach dem Etagenkellner und befahl diesem, Er klingelte nach dem Etagenkellner und befahl diesem,
den Direktor zu holen. Dieser versicherte ihm hoch und teuer, den Direktor zu holen. Dieser versicherte ihm hoch und teuer,
daß es das erstemal sei, daß so etwas in seinem Hause passiere daß es das erstemal sei, daß so etwas in seinem Hause passiere
und bat ihn, mit aller Dringlichkeit, nichts davon verlauten zu und bat ihn, mit aller Dringlichkeit, nichts davon verlauten zu
lassen, da es einen Ruin für sein Hotel bedeute, wenn die Affäre lassen, da es einen Ruin für sein Hotel bedeute, wenn die Affäre
in die Oeffentlichkeit dringe. in die Oeffentlichkeit dringe.
Tandey versprach nur dann zu schweigen, wenn sich Der¬ Tandey versprach nur dann zu schweigen, wenn sich Der¬
artiges nicht wiederholen würde. Nach zwei Tagen rief ihn ein artiges nicht wiederholen würde. Nach zwei Tagen rief ihn ein
Telegramm vorübergehend nach Hamburg. Telegramm vorübergehend nach Hamburg.
Eine Stunde vor seiner Wegreise landete Oellers mit einem Eine Stunde vor seiner Wegreise landete Oellers mit einem
Privatflugzeug, um auf eigene Faust Nachforschungen über die Privatflugzeug, um auf eigene Faust Nachforschungen über die
entführte Braut anzustellen. entführte Braut anzustellen.
„Du wirst mehr verderben, als du nützen wirst," warnte „Du wirst mehr verderben, als du nützen wirst," warnte
Tandey. Tandey.
Der Staatsanwalt brauste auf: „Hast du vielleicht sehr viel Der Staatsanwalt brauste auf: „Hast du vielleicht sehr viel
Ersprießliches hier geleistet? Ersprießliches hier geleistet?
„Vorläufig nichts!" „Vorläufig nichts!"
„Na also!" „Na also!"
„Erlaube mir wenigstens den einen Rat, lieber Oellers „Erlaube mir wenigstens den einen Rat, lieber Oellers
und logiere dich nicht unter deinem eigenen Namen ein, wenn und logiere dich nicht unter deinem eigenen Namen ein, wenn
du hier bleiben willst!" bat Tandey. du hier bleiben willst!" bat Tandey.
Ich sehe das nicht ein! Das wird Ich sehe das nicht ein! Das wird
„Weshalb nicht? „Weshalb nicht?
doch keinem von der Bande einfallen, mich nochmals über¬ doch keinem von der Bande einfallen, mich nochmals über¬
tölpeln zu wollen. tölpeln zu wollen.
„Wir wollen es nicht hoffen." „Wir wollen es nicht hoffen."