VII, Verschiedenes 12, Schnitzlers Tod, Seite 719

Photos aus der Sammlung Raoul Korty, Wi Photos aus der Sammlung Raoul Korty, Wi
Das ist das süße Mädel Das ist das süße Mädel
geliebtes Förstermädel nicht weiß, wen es vor sich dustrie= und Bankjunioren, der, unsachlicher, geliebtes Förstermädel nicht weiß, wen es vor sich dustrie= und Bankjunioren, der, unsachlicher,
Das just so akkurat, Das just so akkurat,
hat. Es war im Grund, wenn man alle Poesie hat. Es war im Grund, wenn man alle Poesie
lichkeitsferner als der Vater, vor dreißig lichkeitsferner als der Vater, vor dreißig
In seiner besten Laune In seiner besten Laune
davon abzieht, ein schäbiger, lyrisch ausstaffierter davon abzieht, ein schäbiger, lyrisch ausstaffierter
den Puppenspieler und Sterbeknaben spiel den Puppenspieler und Sterbeknaben spiel
Der Herrgott g’schaffen hat... Der Herrgott g’schaffen hat...
Handel. Denn diese jungen Herren, die sich für ihr Handel. Denn diese jungen Herren, die sich für ihr
infolgedessen heute wegen fahrlässiger Krid infolgedessen heute wegen fahrlässiger Krid
So rauschten und knauschten vor dreißig Jahren So rauschten und knauschten vor dreißig Jahren
Taschengeld parfürmierte Freuden der Arwüchsig¬ Taschengeld parfürmierte Freuden der Arwüchsig¬
gesperrt ist. gesperrt ist.
keit kauften, waren weit davon entfernt, im süßen keit kauften, waren weit davon entfernt, im süßen
Der süße Bub — das ist der Fleck an Der süße Bub — das ist der Fleck an
alle Werkel in den alten Wiener Häuserhöfen. alle Werkel in den alten Wiener Häuserhöfen.
Der Herrgott aber, der das viel besungene Ge¬ Der Herrgott aber, der das viel besungene Ge¬
Mädel die Vorbotin und den Nachwuchs einer Mädel die Vorbotin und den Nachwuchs einer
Mädel. Was sonst von ihm blieb, das mag Mädel. Was sonst von ihm blieb, das mag
haftig der Herrgott in seiner besten Lau haftig der Herrgott in seiner besten Lau
schöpf kurz zuvor in seiner besten Laune geschaffen schöpf kurz zuvor in seiner besten Laune geschaffen
Anto Anto
hatte, war ein Dichter; er hieß Arthur Schnitz¬ hatte, war ein Dichter; er hieß Arthur Schnitz¬
schaffen haben. schaffen haben.
ler (gestorben am 21. Oktober 1931 im 70. ler (gestorben am 21. Oktober 1931 im 70.
Lebensjahr). Lebensjahr).
War es denn also kein Gewächs der Wirklich¬ War es denn also kein Gewächs der Wirklich¬
keit, sondern eine Blume aus dem Garten der keit, sondern eine Blume aus dem Garten der
dichterischen Phantasie? Hatte es vor dem Dichter dichterischen Phantasie? Hatte es vor dem Dichter
ein süßes Mädel gar nicht gegeben? O ja, aber ein süßes Mädel gar nicht gegeben? O ja, aber
es blühte damals nur in wenigen Exemplaren. es blühte damals nur in wenigen Exemplaren.
Durch ihn erst kam es in Mode, löste das Donau¬ Durch ihn erst kam es in Mode, löste das Donau¬
weiberl im Rang der Wiener Schutzpatronin ab, weiberl im Rang der Wiener Schutzpatronin ab,
wurde die Muse der korso=schlenkernden, hüften¬ wurde die Muse der korso=schlenkernden, hüften¬
weichen Wiener Männlichkeit weichen Wiener Männlichkeit
Süßes Mädel — — wer das Wort musiklos, Süßes Mädel — — wer das Wort musiklos,
ohne Operettenbeiklang hören kann, hört ihm so¬ ohne Operettenbeiklang hören kann, hört ihm so¬
gleich auf den Grund. Eine Distanz zur bezeich¬ gleich auf den Grund. Eine Distanz zur bezeich¬
neten Mädchengattung klingt daraus, eine soziale neten Mädchengattung klingt daraus, eine soziale
Überlegenheit, die sich als erotische Feinschmeckerei Überlegenheit, die sich als erotische Feinschmeckerei
gebärdet, eine Verschwärmtheit, die ihren Gegen¬ gebärdet, eine Verschwärmtheit, die ihren Gegen¬
stand wie ein putziges Spielzeug streichelt. And stand wie ein putziges Spielzeug streichelt. And
dieser Ton enthüllt die Wirklichkeit: das süße dieser Ton enthüllt die Wirklichkeit: das süße
Mädel war, um es in der Sprache eines anderen Mädel war, um es in der Sprache eines anderen
Wiener Dichters zu sagen, der hundert Jahre Wiener Dichters zu sagen, der hundert Jahre
Früher lebte, das „Mädel aus der Vorstadt“. Ein Früher lebte, das „Mädel aus der Vorstadt“. Ein
armes, holdselig-vergnügtes Kind, das die innere armes, holdselig-vergnügtes Kind, das die innere
Stadt, die Welt der Gutangezogenen und Besitzen¬ Stadt, die Welt der Gutangezogenen und Besitzen¬
den, nur als Ort der Arbeit kannte, wo es als den, nur als Ort der Arbeit kannte, wo es als
Hutmacherin, als Ladenmädel, als Friseuse oder Hutmacherin, als Ladenmädel, als Friseuse oder
Lehrfräulein in Dienst war. Da fielen gegen Ende Lehrfräulein in Dienst war. Da fielen gegen Ende
der siebziger Jahre die Glacis, die Linienwälle, der siebziger Jahre die Glacis, die Linienwälle,
welche Vorstadt und innere Stadt voneinander welche Vorstadt und innere Stadt voneinander
Arthur Schnitzler Arthur Schnitzler
schieden. Diese geographische Vermischung der schieden. Diese geographische Vermischung der
Stände fiel, gewiß nicht zufällig, mit einer neuen Stände fiel, gewiß nicht zufällig, mit einer neuen
neuen, vorwärtsdrängenden Klasse zu erblicken, sie neuen, vorwärtsdrängenden Klasse zu erblicken, sie
Mode der Gefühle zusammen: die Echtheit, der Mode der Gefühle zusammen: die Echtheit, der
verpflanzten es als gefällige Zimmerblume auf verpflanzten es als gefällige Zimmerblume auf
Naturton der unteren Schichten war plötzlich ge Naturton der unteren Schichten war plötzlich ge
ihre Buden, kamen sich unaussprechlich volks= und ihre Buden, kamen sich unaussprechlich volks= und
fragt. Die jungen Bürgersprossen, die die Sprache fragt. Die jungen Bürgersprossen, die die Sprache
wirklichkeitsnah vor und ahnten nicht, wie sich wirklichkeitsnah vor und ahnten nicht, wie sich
und die lässige Weichheit der Aristokraten nachäff¬ und die lässige Weichheit der Aristokraten nachäff¬
eine neue soziale Wirklichkeit da für sie und vor eine neue soziale Wirklichkeit da für sie und vor
ten, die Nichtstuer und Kärntnerstraßen=Flaneure, ten, die Nichtstuer und Kärntnerstraßen=Flaneure,
ihnen entwürdigte. ihnen entwürdigte.
die ihre fexenhaften Schmerzen bespiegelten, von die ihre fexenhaften Schmerzen bespiegelten, von
Freilich, auch das süße Mädel wird nicht viel Freilich, auch das süße Mädel wird nicht viel
Orchideendurft, schwarzen Schwänen und kristalle¬ Orchideendurft, schwarzen Schwänen und kristalle¬
davon gewußt und verspürt haben. Denn die Wie¬ davon gewußt und verspürt haben. Denn die Wie¬
nen Schalen träumten, kurz alle die wienerischen nen Schalen träumten, kurz alle die wienerischen
nerin überhaupt hat ja (wie der Wiener) im Ver¬ nerin überhaupt hat ja (wie der Wiener) im Ver¬
Lord Byrons mit Fabriksanteilen und einem väter¬ Lord Byrons mit Fabriksanteilen und einem väter¬
gleich zu der übrigen Amwelt wenig Selbständig¬ gleich zu der übrigen Amwelt wenig Selbständig¬
lichen Konto, begannen jetzt mit dem dritten Stand lichen Konto, begannen jetzt mit dem dritten Stand
keitsbedürfnis und Stolz, sie wartet im Grund keitsbedürfnis und Stolz, sie wartet im Grund
zu kokettieren, sie kamen sich teils weiß Gott wie zu kokettieren, sie kamen sich teils weiß Gott wie
heute noch in ihren stillen Träumen auf den Kaiser heute noch in ihren stillen Träumen auf den Kaiser
revolutionär, teils wie große Herren vor (die sich, revolutionär, teils wie große Herren vor (die sich,
Joseph, der incognito bei ihr eintritt und sie auf Joseph, der incognito bei ihr eintritt und sie auf
ebenfalls nach aristokratischem Vorbild, eigentlich ebenfalls nach aristokratischem Vorbild, eigentlich
sein Schloß führt. Aber sie war nie mißbrauchter sein Schloß führt. Aber sie war nie mißbrauchter
nicht auf unstandesgemäßen Abwegen ertappen nicht auf unstandesgemäßen Abwegen ertappen
als in der „Anatol“-Zeit, wo sie die Junggesellen¬ als in der „Anatol“-Zeit, wo sie die Junggesellen¬
lassen dürfen), wenn ihre Freundin Mizzi hieß, lassen dürfen), wenn ihre Freundin Mizzi hieß,
stuben des sterbenden Wiener Bürgertums mit stuben des sterbenden Wiener Bürgertums mit
aus Hernals oder Liebhartstal war und die harbe aus Hernals oder Liebhartstal war und die harbe
dem Duft ihrer Volkstümlichkeit durchräucherte. dem Duft ihrer Volkstümlichkeit durchräucherte.
Sprache der enteren Gründ' sprach. So spielten Sprache der enteren Gründ' sprach. So spielten
Das süße Mädel von Anno dazumal wär' ein Das süße Mädel von Anno dazumal wär' ein
sie einerseits die widerspenstigen Söhne, die Ent sie einerseits die widerspenstigen Söhne, die Ent
herzinniges, liebes, himmlisches Geschöpf gewesen herzinniges, liebes, himmlisches Geschöpf gewesen
decker des Realismus und auf der anderen Seite, decker des Realismus und auf der anderen Seite,
frei nach den alten, beliebten Fortsetzungsromanen frei nach den alten, beliebten Fortsetzungsromanen
müßte man sich als ihren Partner nicht immer müßte man sich als ihren Partner nicht immer
aus dem „Extrablatt“ den Kaiser Joseph, dessen das süße Buberl vorstellen: den vertändelten In¬ aus dem „Extrablatt“ den Kaiser Joseph, dessen das süße Buberl vorstellen: den vertändelten In¬