VII, Verschiedenes 13, 1932–1933, Seite 54

13.
scellanos
I. Oesterr.
OBSERVER behördl. konz.
Büre für Zeitungsnachrichten
WIEN I. WOLLEILE
Volkszeitung, Wien
3
MAI 1933
— Maria Delbard. Von Camille
Semond einbegleitet, sang kürzlich in der
Urania Maria Delvard ihre wohlbekannten
Chansons, diesmal aus dem 15. und 16. Jahr¬
hundert. Es ist wohl nicht nötig, die hoch¬
begabte Französin vorzustellen, die als eine der
Mitbegründerinnen der neuen Kabarettkunst
gewirkt hat, kongenial der Yvette Guilbert.
Die so manchen als Rebellen geltenden
Künstler, Wedekind zum Beispiel oder
Schnitzler, aus der Rampentaufe gehoben hat
an Brettl, das sich ihnen später zur Welt
erweitern sollte. Ob sie diesmal altfranzösisch
lang, ob sie im Kostüm der Gaskogne oder der
Bretagne kam, ob sie deutsch oder modernes
Franzosisch sprach, es bleibt eine ganz eigene
Kunst, diese so zarte Sache, die einen unnach¬
ahmlich poetischen Reiz hat und eben unüber¬
setzbar Chanson heißt, zu heiterer, grotesker
oder erschütternder Wirkung zu führen. Am
besten gelungen war das Weihnachtslied
„La belle de borger“ „La veuve" und „
vous", zwei lustige Liebchen, oder die ernste
„Ballade de Jean Renon". Auch „Le canard
blanc oder das in einem Hochzeitskleid vor¬
getragene „Le meunier“ oder „Baisez-moi,
ferner in den vielen Zugaben, die verlangt
und gewährt wurden, das deutsche „Alt¬
Wien, schlugen besonders ein. Die Kunst des
Brettls ist eine eigene Gattung, eine Cousine
der Thalia, eine lebensberechtigte und dazu,
wenn von einer so begabten Interpretin dar¬
gebracht, wie es Marya Delvard ist, auch eine
sehr reizvolle.
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RATIS
I. Oesterr.
OBSERIE der kon¬
Zeitungsnachrichten
WIEN, WOLLIELE

A MAI 1933
(Mutter=Almanach der Dichter Oesterreichs.) Eine
Mutterhuldigung zum Muttering. Poetische Kränze, die
Franz Karl Ginzkey mit dem starken Glauben in die All¬
mütterlichkeit der Frau, Felix Salten mit dem Trauerflor
wehmutsvoll innigen Gedenkens aufs Grab der Mutter legen.
Paula Grogger malt mit dem ihr eigenen Ton von Kraft und
Herzlichkeit ein Genrebild der kranken, genesenden Mutter,
und Emil Ertl, der seine Epiker, erzählt die rührende Ge¬
schichte des kleinen, sehnsüchtigen Christl, der das ungewünschte
Kind einer Magd war. Ergreifend ist auch die Erzählung von
Dolores Vieser, wie die bange, kindliche Vroni aus dem
Dienstplatz nach Hause flüchtet, oder das Gedenkblatt von
Rudolf List, der in den roten, rauh gearbeiteten Händen der
Mutter das Sinnbild rastloser Hingabe und liebender Für¬
sorge sieht. „Hände“ heißt auch eine Skizze von Hugo Greinz
die fast visionär flüchtige Liebesepisode im fahrenden Zug,
da es dem Manne ist, als wären die Hände, als wäre das
junge Weib selbst eine Sekunde lang ihn hingegeben. Die
„Wiener Wissenschaftliche Korrespondenz Gebhardt", hat die
kleine Sammlung im Fiba-Verlag (Wien=Leipzig) heraus¬
gegeben. Ein merkwürdiger Zug ins Uebersinnliche, in die
Metaphysik dunkler Zusammenhänge eint manche dieser Bei¬
träge. Hat wirklich die Schuld der gequälten Mutter, die ihr
Kind nicht wollte, den Sohn zum Verbrecher werden lassen?
Arthur Schnitzler wirft in der „Papieren eines Arztes" die
Frage auf, „denn mich dünkt, es ist noch lange nicht klar
genug, wie wenig wir wollen dürfen und wieviel wir müssen".
In ähnlich transzendentalem Selbstvorwurf behauptet ein
Vater in Karl Hans Strobls Erzählung „Das Kind der
Magd, am Tode seines Knaben schuld zu sein, weil er das
Ende eines andern, sein Dasein störenden Kindes wünschte.
Irgendwo liegt ein Irrtum, den wir im Leben begangen
haben; wenn es uns schlecht ergeht, meint Otto Soyka in
einem knappen Schicksalsbild. — „Ein Haus vorbei, nicht
mehr, der kleine Kräutergarten ist wohlgekämmt, die Schwelle
blank, „es buschen sich im Fenster blaue Blüten; wie tausend
Augen beten sie hinan für Hände muttergütigem Leben"
sim schlichten Werk des Alltags erfaßt Heinrich Suso
Waldeck mütterlich treues Walten — Einzelstimmen im reich
orchestrierten Hymnus des Muttertages.