VII, Verschiedenes 13, 1932–1933, Seite 59

ist das lebend Unge¬
wältigende eines die
NEUE NOVELLEN
schaft und Liebe gerade
nicht mehr mit solch
GOTTERIED KOLVEL: Der tödliche Sommer. Frundsberg- Erzähler befreundet sich mit einem fünfzehnjährigen enthüllender Anteilnahm
Verlag, Berlin
Knaben, der mit seinen Eltern in derselben Sommerfrische
vollkommenen Novelle
weilt, er beobachtet das Erwachen einer ersten Zuneigung
Reflexionen, nur aus
Novellen verhalten sich in der epischen Kunst zum Roman
wächst hier das Seelenbil¬
zwischen diesem Knaben und einem zwei Jahre jüngern
wie in der Musik das Kammermusikwerk zur Sinfonie. Si¬
Mädchen, die von der stillen Schönheit eines frühen Blüten
Menschen, die seiner Ver
müssen das gleiche gedankliche Gewicht, dieselbe seelische
Macht des Bewußtsein
Tragfähigkeit haben wie die „große Dichtung, aber noch tags erfüllt ist. Die Ankunft einer angeblichen Filmschau
spielerin reißt den Jungen plötzlich in die erste, aus der
stehen. Eine psychologi
strenger in der Form, noch geschlossener im Aufbau sein.
Unschuld des Spiels heraustretende Jugendleidenschaft, der
ihr zugrunde liegenden
Wie die Stimmen des Streichquartetts müssen die Themen
er psychisch und schließlich auch physisch, durch einen Ab¬
dürfte nicht der österrei¬
geführt sein, erkennbar selbständig und doch mit gleicher
sturz beim Blumenpflücken für die angeschwärmte Dame,
logischen Kraft der Er¬
Funktion im Ganzen. Die Novelle verlangt Satzkunst, und
erliegt. Die kleine Freundin des Toten wirft bei der Be¬
Autor zu erraten.) Abe
wenn es kunstlose Romane gibt, die dennoch wirken — wie
erdigung in kindlicher Verzweiflung, hinter der sich, ihr
dieser Kindernovelle, son
etwa die Romane von Upton Sinclair oder, um berühmter
selbst unbewußt, der Haß der Liebenden auf die Neben
um so stärker ergreift
Beispiele zu nennen, die Zola, kunstlose Novellen gibt es
buhlerin verbirgt, mit einem Stein nach der Frau, die an dem
und Sätzen von ruhiger
nicht. Sie sind der eigentliche Prüfstein schriftstellerischer
Verhängnis schuld ist. Eine in der tatsächlichen Wirkung
Klarheit, Zucht und nie
Meisterschaft, und es ist bezeichnend, daß die letzten Jahre
geringfügige, in der sinnbildlichen Größe um so stärkere
dieses Buch zeigt, wie ge
in der wahl- und uferlosen Produktion der jungen Generation
Bewegung.
einer neuen deutschen
ausschließlich auf den Roman beschränkt blieben, den Roman,
Seit Colettes unvergeßlicher Meisternovelle „Phil und Vinca
der einem auch zufallen kann, während die Novelle
geschrieben werden muß. Thomas Mann und Arthur
Schnitzler sind die letzten großen Novellisten der Vorkriegs¬
generation gewesen. Es schien niemand mehr zu geben, dem
sie ihr Erbe eines Tages würden vermachen können.
Der Münchner Lyriker und Erzähler Gottfried Kölwel,
dem die „reine Schrift eine verpflichtende Aufgabe ist, ist
einer der wenigen, die nach der großen Pause wieder No¬
vellen schreiben dürfen. Er ist als Themenerfinder von großer
Einfachheit, als Erzähler von ungewöhnlicher Klarheit, als
Künstler von vorbildlicher Überlegtheit. Sein Buch Der
tödliche Sommer, aus dem die Kölnische Zeitung seiner¬
zeit die Erzählung Eine arme Kreatur Gottes zum Vorabdruck
brachte, enthält vier Novellen, Begebenheiten im Leben länd¬
licher Menschen, von klassischem Maß, Kölwel weiß, daß die
Novelle keine Schicksalsläufe enthalten darf, sondern Ge¬
schehnisse oder Ereignisse, mit deren Eintritt das Schicksal
einen Schlag führt. Er weiß, daß in der Novelle nicht vor
allem charakterisiert, sondern berichtet und gedeutet wird,
daß die Gestalten der Novelle in einem Seelenzustand ver¬
harren müssen oder höchstens aus einem in den andern über¬
gehen, nicht aber eine Reihe von Zuständen durchlaufen
dürfen. Und er weiß schließlich, daß für die Novelle wie
für kein zweites Gebiet der Wortkunst der Satz gilt, daß
Dichten Ver-dichten heißt. Es möge aus diesen Bemer¬
kungen aber nicht der Eindruck entstehen, als ob Kölwel¬
Erzählungen vor allem Lehrstücke wären, an denen sich die
Theorie der guten Novelle entwickeln ließe. Daß sie das
auch sind, gibt ihnen ein besonderes Gewicht für den
literaturgeschichtlichen Augenblick, in dem die Novelle
wieder in eine bedeutsamere Position einzurücken scheint
Kölwels, des Oberpfälzers, Stärke ist seine landschaftliche Ver¬
bundenheit, die er freilich nicht mit der penetranten Muffig
keit des „Schollendichters“, sondern mit jenem großen, aus
dem Bodenständigen ins Menschliche hinüberwehenden Atem
erlebt, von dem auch Gottfried Kellers schweizerische No¬
vellen erfüllt sind. Zugleich aber kommt aus dem Oster
reichischen herüber ein zweiter höher Ahn der Kölwelschen
Prosa: Adalbert Stifter. An ihn denkt man, wenn man die
Stimmung einer Landschaft durchempfindet, wie sie Kölwel,
ohne jemals einem nur atmosphärischen Reiz" zu verfallen,
darzustellen vermag. Dem entspricht die Art, wie seine
Personen nicht durch Psychologisieren, sondern gewisser¬
maßen durch ihre innere Situation hindurch charakterisiert
werden als Geschöpfe, an denen sich noch das Verhängnis
mit aller frühen und urtümlichen Gewalt eines elementaren
Ereignisses vollziehen kann. Starke und ursprüngliche
Symbolkraft in Verbindung mit einer vorbildlichen Klarheit
und Helle der sprachlichen Gestalt — das sind die wichtigsten
Merkmale der epischen Kunst Kölwels, die gerade dadurch
als beispielhaft für eine neu zu schaffende deutsche Prosa.
gleich weit entfernt von welkem Formalismus wie von
dumpf romantisierendem Gestammel, zu gelten hat.
FRANZ NABL: Kindernovelle. Rainer-Wunderlich-Verlag,
Tübingen.
Dieselben Eigenschaften, die Gottfried Kölwels Erzähler¬
kunst auszeichnen, besitzt auch der jetzt fünfzigjährige
Österreicher Franz Nabl. Ja, es gibt sogar wenige Dichter
die so um das Kunstgeheimnis der Novelle wissen wie er
Nabl schreibt nicht viel und nicht oft; aber jede Zeile, die er
zum Druck gibt, ist von vollkommener Gestalt und Teil eines
Werks, das als künstlerisches Gebild mit hohem Recht das
allzuoft leichtfertig verteilte und im geschäftseifrigen
Literaturbetrieb ausgemünzte Prädikat meisterhaft
Anspruch nehmen darf. Gabe es in der epischen Kunst einen
Begriff, der dem in der alten italienischen Baukunst ver¬
wandten der architettura purissima entspricht, man mußte
ihn auf die Erzählungen Nable anwenden, in denen kein
überflüssiges Wort steht, nichts, was nicht durch die epische
Entfaltung des Themas, durch die Formbewegung des Stoffes
selbst bedingt wäre. Das beste Erbe der großen öster¬
reichischen Novellenkunst, die in Arthur Schnitzler ihren
Höhepunkt — freilich für eine andre Zeit und andre Zeit¬
mächte — fand, lebt bei Nabl in ungebrochener Kraft weiter
In der „Kinder novelle“ wird das schmerzlich schöne
Erlebnis eines Sommerurlaubs in den Bergen erzählt. Der