VII, Verschiedenes 13, 1933–1934, Seite 13

Er war nicht einmal sehr umgänglich, so daß ein sehr
liebenswürdiger, aber reichlich mit Tränen gespickter Prüfungs¬
raum zu durchmessen war, um an Bahr endlich heranzukommen
Sein ganzes Entdecken bestand in seinem hinreißenden Beispiel
in seinem Vorhandensein innerhalb einer völlig verkalkten
akademischen oder versumperten Ungeistigkeit. Die schönen, aber
einseitigen Feuilletons von Ludwig Speidel, die blendenden
Inhaltsangaben meist biographischer französischer Erscheinungen
Hugo Wittmanns, die Sittenschilderungen Eduard Pötzls aus
dem Gruspelspitzgesichtswinkel, das war Wiens „literarisch¬
kritisches Leben"
Und plötzlich, im Verlauf von ganz wenigen Jahren, gab
es wirklich eine jungösterreichische Literatur. Schnitzler, Beer¬
Hofmann, Salten, Dörmann waren von Anfang an dabei.
Wirklich, mit dem ersten vollen Elan seiner ungeheuren
dialektischen Werbekraft rief er den Gymnasiasten Loris, bald
Hugo v. Hofmannsthal zum beglaubigten Nachfolger der hohen,
alten Oesterreicher aus.
Unsere Beziehungen waren von der ersten Stunde an,
bedenke ich es heute, eher nähere menschliche als literarische. Ich
hatte einen Vetter, der Bahrs Couleurbruder war, mit dessen
Karte und dem Manuskript einer kleinen Erzählung ging ich
eines Tages in die Günthergasse, wo die Redaktion der Wochen¬
schrift „Die Zeit" war. Ich hörte wochenlang dann nichs; also
wußte ich, daß es nicht war. Als ich wieder vor Bahr saß, sagte
ich dies offenbar in so offener, erkenntnisvoller Art, daß er
davon sichtlich überrascht war. Und dann geschah noch etwas,
wodurch ich bei ihm gewann ich brachte ihm einen großen
Aufsatz über Adalbert Stifter. Das war im Jahre 1898. Zum
dreißigsten Todestag. Man muß wissen, Stifter war damals
völlig und ganz und gar außer Kurs, nicht vergessen, weil ja
jeder Mittelschüler seine Bekanntschaft machen mußte. Das war
ja aber sein Unglück!
Bahr hat es mir später einmal gesagt, meine Erinnerung
Stifters habe auf ihn wie eine Sendung der Heimat gewirkt.
Er selbst hatte den großen Oesterreicher ganz vergessen und er
hatte doch sogar noch in seine Linzer Knabenjahre hinein¬
gespielt. Bahr hat sich in der Folge, dann viel mit Stifter
beschäftigt. Bahr ist meinem ersten Stück Pathe gestanden, als
er Ernst Gettke zur Aufführung veranlaßte, als es, ob seiner
Frechheit und — damals! — ungewöhnlichen lockeren Form
sehr laut, sehr turbulent abgelehnt wurde, war er sehr zufrieden
mit mir, ich stand niemals mehr seinem Kämpferherzen als
wohlgeratener Schüler näher als damals.
Auf einer der damals sehr beliebten, von Max Burckhard
aber leidenschaftlich betriebenen Radfahrten nach dem Prater¬
spitz, auf dem heute längst verschwundenen Touringklubweg,
versetzte Bahr dem Burgtheaterdirektor die Kunde von meinem
Stück „Frühling". Er nahm es an. Ein paar Wochen später
hatte ihn eine Schauspielerverschwörung unter Duldung des
Generalintendanten Baron Beseczny, gestürzt. Hofrat Doktor
Glossy hat mir erst vor einigen Monaten erzählt, er habe im
Staatsarchiv den Akt gefunden, worin die Intendans
Es ist etwas Seltsames, der Dankbarkeit einen objektive
Ranküne gegen Burckhard alle seine Vorschläge, auch meines
Ausdruck zu geben, dort kritisch zu sein, wo alles Erinnern,
Stückes betreffend, ablehnte. Sie haben mich unterschlagen!
Bekennen und Erfassen zur Freundschaft wird. Ich sehe Sie
Am 15. Juli 1901 waren Sie, erinnern Sie sich noch
verehrter Meister, in der St. Johanniskirche mein Beistand, unauslöschlich vor mir als den „interessanten Hermann Bahr,
wie Hofrat Dr. Glossy der des Fräuleins Alice Hetsey es war den frisch aus Paris entsprungenen Bürgerschreck mit der
Und erinnern Sie sich noch der zahllosen Sonntag bewußten Stirnlocke, mit den um den kräftig gebildeten Kopf
vormittage vor dem breiten Fenster Ihres Hauses auf der sich ringelnden Haaren, mit dem widerspenstig unregel¬
Höhe der Veitlissengasse? Orlow, der dümmste und arroganteste mäßigen, sagen wir „ausigen Spitzbart, mit den kleinen,
aller russischen Windhunde, lebte noch! Und erinnern Sie sich verschmitzten, aus Fettpölsterchen unheimlich funkelnden,
glänzenden Augen, mit der — nicht zu vergessenden — ewigen
noch der vielen Wienerwaldhänge?
Virgina im Munde. Das ist „mein" immer zu lebendiger
An etwas will ich Sie erinnern. Eines Sonntags¬
Fräulein hatte mir die kleine Olbrich=Tür geöffnet — nebenbei Quell, ja Strom des Lebens, des Geistes, genannt Hermann
bemerkt: es gab im Hause Bahr immer ein ungeheuer ein Bahr, als der Sie unentwegt verehrt Ihr
flußreiches „Fräulein" (siehe „Wienerinnen", „Konzert"), das
offenbar sehr wichtige Aufgaben hatte, etwa als Sekretärin,
Hexenschußbändigerin, Hausdame); ich stand also in der Halle
und vernahm, steinerweichend mühsam zusammengeklaubt
Wotans Abschied von Brünhilde, offenbar mit einem Finger
vorgetragen! Und richtig: Sie saßen vor einem Pianino, da¬
ich vorher im ganzen Hause nicht gesehen hatte. Es war um
die Zeit, als Richard Wagner zum zweitenmal als Schicksal
in Ihr Leben trat. Eine Rede auf dem Wagner=Kommers
über die alles erlösende Kundry hatte Ihnen einst Relegierung
von der Wiener Universität eingetragen; jetzt hatten Sie Frau
Anna Mildenburg kennengelernt. Kundry hat's genommen
Kundry hat's gegeben!