VII, Verschiedenes 13, 1933–1934, Seite 15

13. Miscellaneous
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„OBSERVER
1. österr. behördl. konzessioniertes
Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
WIEN, I., WOLLEILE 11
TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus:
Neue Freie Presse
3. AUG. 1933
vom
— Der Kardinal und die Künstler.) Die Dachkammer¬
existenz der unbekannten jungen Dichter, Maler und Musiker
war seit jeher ein beliebtes Requisit sentimentaler Betrachtungen.
Es ist sehr nett und stimmungsvoll, sich den jungen Künstler
vorzustellen, der nicht weiß, wovon er am Ersten seine Mitte
bezahlen soll, aber trotzdem den Kopf hoch trägt, weil er fühlt,
daß er ein Genie ist und daß auch seine Zeit einmal kommen
muß. Und es ist ein beliebtes Klischee, die Bohemeromantik des
Anfängers, der trotz aller Geldsorgen mit seiner Mimi oder Mi¬
glücklich ist, der Ernüchterung des grauhaarigen Arrivierten
gegenüberzustellen. Nun ist aber bei dem Künstlerelend von heute
auch beim besten Willen nicht die geringste Spur von Boheme¬
romantik zu bemerken. Diese Bohemeromantik des Künstlerelends
war ja auch früher schon in vielen Fällen eine süßlich=verlogene
Phrase. Man spricht gern von den Genies, die sich allen Ent¬
behrungen zum Trotz durchgesetzt haben. Aber Arthur Schnitzler
hat diese landläufige Redensart einmal mit vollem Recht durch
den Einwand widerlegt, daß so manches Genie vielleicht noch
viel mehr geleistet hätte, wenn nicht seine schaffenskräftigsten
Jahre im Kampfe gegen die Not vergangen wären. Wer weiß
denn von den ganz besonders feinnervigen Begabungen
ungefähr führte Arthur Schnitzler aus —, die ihre Meisterwerke
nicht geschaffen haben, weil sie den Härten des Lebenskampfes
nicht gewachsen waren. Das Künstlerelend von heute ist,
wie gesagt, auch nicht durch den leisesten Schimmer von Romantik
tröstlich vergoldet. Es ist ein hoffnungsloses, würgendes, bös¬
artiges Elend. Da hat nun Kardinal=Erzbischof Dr. Innitzer,
der in den wenigen Monaten seiner bisherigen Amtsführung
bereits den innigsten geistigen Kontakt mit allen Schichten der
Wiener Bevölkerung gefunden hat, gestern bei der Eröffnung
der Ausstellung im Künstlerhaus ein schönes Wort gesprochen.
„Statten Sie den Dank für den Genuß, den Ihnen die alten
Künstler bereiten", sagte der Kirchenfürst, „den lebenden
Künstlern ab, indem Sie sie beschäftigen und auf jede Weise
fördern.“ Eine beherzigenswerte Mahnung. Es ist eine sehr
bequeme Art von Kunstsinn, vor den alten Meistern zu knien.
und die zeitgenössischen Künstler hungern zu lassen. In früheren
Jahrhunderten war die Kunst der Kirche für reiche Förderung
zu Dank verpflichtet. Kardinal Innitzer, dieser im edelsten Sinne
des Wortes moderne Priester, knüpft mit seinem gestrigen
Bischofswort verheißungsvoll an eine große Tradition an.
Unternehmen für Zeitungs-Ausschne
WIEN, I., WOLLEILE 11
TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus:
den
vom
AUG.
Das Lebenselirier der schwer¬
mütigen Gymnasiastin.
Die achtzehnjährige Pauly hat ihren Eltern während
der letzten zwei Jahre viel Sorgen bereitet. Das unge¬
wöhnlich hübsche Mädchen, hochgewachsen, hell¬
blond, von den Eltern verwöhnt, von den jungen Leuten
umschwärmt, litt an Schwermut. Bis zu ihrem sech¬
zehnten Jahr war sie ein lustiges, übermütiges Ding, im
Gymnasium wegen ihrer ausgelassenen Streiche bekannt, bei
jedem Schaberack dabei. Im Winter ein reizendes „Ski¬
haser!", eine glänzende Eisläuferin, in der Tanzstunde eine
gefeierte junge Schönheit. Im Sommer an dem Salzkammer¬
gutsee, den ihre Eltern fast alljährlich besuchen, ebenfalls
ein Liebling der Gesellschaft, eine trainierte Schwim¬
merin und Bergsteigerin.
Dabei war sie aber keineswegs von einer Sport¬
monomanie besessen. Im Gegenteil, ihre Hauptleiden¬
chaft war Lektüre. Vor allem für Arthur Schnitzle
hegte sie eine schwärmerische Verehrung der von der
Nüchternheit und Sachlichkeit, die man der heutigen Jugend
oft nachsagt, nichts anzumerken war. Das hochbegabte
Mädchen hatte beinahe jede Zeile von Arthur Schnitzler
gelesen und bewahrte davon ein starkes seelisches Erlebnis.
Im Spätsommer 1931 traten bei ihr allmählich
Symptome einer seelischen Verdüsterung auf. Sie fand
an übermütiger Gesellschaft keinen Gefallen mehr, wurde ein¬
siedlerisch, weinte leicht und vergrub sich immer mehr in die
Lektüre ihres Lieblingsdichters. Als ihre Familie aus dem
Salzkammergut wieder nach Wien kam, war Pauly noch
schöner geworden, aber in ihrem Wesen nicht
wieder zu erkennen. Verschlossen, schweig¬
am, schwermütig. Die Eltern sahen sich genötigt,
einen Nervenarzt zu Rate zu ziehen, der Zerstreuung und
Ablenkung empfahl, ohne aber durch diese Methode
eine Besserung ihres Zustandes zu erzielen. Arthur
Schnitzlers Tod im Oktober 1931 bedeutete für Pauly
sie hatte den Dichter nicht persönlich gekannt — eine furcht¬
bare seelische Erschütterung. Mit seinem letzten Buch „Flucht
in die Finsternis trieb sie einen förmlichen Kult. Während
des Winters verschlimmerte sich ihr Zustand, sie wurde blaß,
verlor an Gewicht, in der Schule fiel ihre Arbeitsunlust und
Unaufmerksamkeit auf. Sport und gesellschaft¬
liche Veranstaltungen wurden ihr wider¬
wärtig.
Ein Selbstmordversuch.
Die geängstigten Eltern waren ratlos. Im Sommer ver¬
suchten sie durch eine größere Reise die Gemütskrankheit ihrer
Tochter zu heilen. Wieder ein Fehlschlag. Im Herbst be¬
ging Pauly einen Selbstmordversuch durch
Einatmen von Leuchtgas. Sie wurde in leichter Be¬
täubung aufgefunden, der peinliche Zwischenfall wurde ver¬
tuscht. Es war nicht möglich, von Pauly die Ursache ihres
Lebensberdrusses zu erfahren.
Seit etwa zwei Monaten aber ist Pauly wieder
das strahlende, lebensfrohe Geschöpf, wie sie
es bis vor zwei Jahren war. Und diese Verwandlung ist
das Verdienst eines erfahrenen Pädagogen und Jugend¬
beraters. Er riet Paulus Eltern, in der Lebensweise ihres
Kindes eine radikale Aenderung eintreten zu lassen. Anfang
Mai kam Pauly zu einer holländischen Bauernfamilie. Aber
nicht als Sommerfrischlerin, sondern als
Bauernmagd. Bei Morgengrauen aus dem Bett, abends
zeitig in die Federn, den ganzen Tag schwere landwirtschaft¬
liche Arbeit auf den Feldern und im Stall. Derbe,
kräftige Kost.
Schon nach zwei, drei Wochen besserte sich Paulys Zu¬
stand auffallend. Im Juni waren ihr kaum noch Krankheits¬
symptome anzumerken. Sie lachte und sang wieder
und war mit Feuereifer bei der Arbeit. Nur ganz selten
und immer schwächer kam die alte Verstimmung über sic.