VII, Verschiedenes 13, 1934–1935, Seite 32


dem ich jetzt erzählen will und von dem alle wissen müßten
denn er ist wahrhaftig ein großer Dichter!
Erste Erinnerung: an einem sonst belanglosen Nachmittag
weil der Vater
bekamen winzig=junge Gymnasiasten schulfrei
eines Mitschülers begraben werden sollte. Es war das erste
Begräbnis in meinem kleinen Bubendasein, das ich inwendig
spürte. Man muß den Sachverhalt erklären. Zwischen dem
damals noch sehr engumhegten Innsbruck und dem sogenannten
Mittelgebirge liegt, wie man bei Goethe und Heine nachlesen



MATRATZEN
.
Steilig, Leinenstreisgradl, la Afrique
Roßhaar- und Lotterbettmatratzen in reichster Auswahl.
Adressen der Fabrik und Nieder¬
lagen siche Inserat auf Seite 3 ADOLF GANS A.-G.

kann, das liebliche Oertchen Wilten. (Heute längst Stadtgebiet,
heute längst umgebaut, heute schon unromantisch.) Linker Hand
von der Straße zur Sillschlucht schlich sich ein schmächtiger
Feldweg, die Neurauthgasse. Und dort wiederum, rechter Hand,
kauerte inmitten von Georginen und Efen ein unscheinbar
mageres Haus. Sah aus wie ein ausgebrochener Zahn, den
jemand auf einer bunten Wiese verloren hat. Und aus diesem
Hause krümmelte sich der Trauerzug. Und es war ganz unsagbar
traurig. Und meine Augen, mein Verstand, meine Hände suchten
unaufhörlich den kleinen Leitgeb, der ebenso klein war wie ich,
denn es war so entsetzlich, daran zu denken, daß jemand seinen
Vater verloren habe.
Ein paar Tage später erschien der kleine Pepi bei uns in
der Klasse als Zögling des Waisenhauses, uniformiert und mit
einem schwarzen Käppchen; wurde täglich abgeholt und in Reih
und Glied ins Institut zurückgebracht. (Wir durften allein
wißt ihr, was das heißt, allein! — heimgehen.)
Als wir Jünglinge waren, gingen wir beide sehr oft -
nicht heim. Wir dichteten gemeinsam, erfanden ein Drama
„Leonidas, schrieben unserem Deutschprofessor zu Ehren um
die Wette, waren aufeinander eifersüchtig und entkamen uns
langsam. Als der Weltkrieg da war, schmiß er uns beide um.
Wir waren beide Kaiserjäger, aber zunächst weit auseinander.
Kollegen und Verwandte wurden uns in allen Ecken und Enden
der Monarchie zusammengeschossen. Aber — der Himmel meinte
es gut mit uns — da ergab sich uns einmal, ein einzigesmal,
ein kleines Glück, wir waren gemeinsam auf Urlaub. Er von
der Südfront, ich aus Beneschau. Und nun saßen wir gemeinsam
in jener kleinen Villa am samtgrünen Hang des Iselberges.
Was taten wir da? Pepi spielte Cello, ich Geige, der Doktor
Spörr die zweite Violine, Leitgebs Onkel, der blondbärtige
Doktor Pallhuber, der eines Nachts vor vielen Jahren seine
Seele aushustete, die Bratsche. Eine Handvoll Frühlingsabende
schenkte uns damals der Herrgott. Wir waren glücklich. Wir
spielten Haydn, Mozart, Schubert und leichten Beethoven. Wahr¬
scheinlich schlecht, aber innig.
Pepi war in eine Wiener Cousine verliebt, die ihm
Schnitzler=Dramen zum Lesen lieh. Auch ich träumte einer
verhängnisvollen Dummheit nach — aber alles war so schön.
Noch heute weiß ich, wie ich mit meiner Kindertotentruhe von
Geigenkasten am letzten Abend, bevor mein Leitgeb zurück an die
Front mußte, bergabwärts in die Kaserne wanderte. Mit
Herzweh.
Als nach dem Zusammenbruch der Teufel über die ver¬
winterte Welt Schlittschuh lief, als bei uns in Tirol niemand
mehr aus und ein wußte, schrieb Josef Leitgeb seine ersten
Gedichte. Sie waren sehr schön und ich habe ihn sehr darum
beneidet. Als verkrachte Akademiker sahen wir uns vorläufig
zum letztenmal. In einem kleinen Kaffeehaus unter den Lauben.
Zwischen uns saß eine merkwürdige Frau.
Heute ist Dr. Josef Leitgeb ein Volksschullehrer, sieht un¬
gefähr so aus wie ein gotisch geschnitzter Apostel und ist der
Tiroler Dichter, der unbedingt entdeckt werden müßte. Reden wir
jetzt nicht von den feinen Versen, die er schrieb, nicht von den
Novellen, die kaum jemand kennt. Berichten wir von dem pracht¬
vollen Roman, den Bruno Cassirer in Berlin verlegte, seiner
„Kinderlegende", die so meisterlich und überirdisch schön dargetan
wurde, daß man sie ohne weiteres zwischen Stifter, Mörike und
Gottfried Keller in den Bücherkasten einreihen kann. Das
Mysterium, daß durch rätselhafte Verkettung schicksalhafter Linien