VII, Verschiedenes 13, 1934–1935, Seite 39

Augustin.
Das Klubwesen, das im Leben der Engländer eine den berühmtesten in Wien gehörte, residierte. An diesem Stamm¬
dominierende Rolle spielt, hat sich in Wien nie so recht zu ent= tisch fand sich in sehr abwechslungsreicher Reihenfolge wohl so
wickeln vermocht. Klubs nach englischem Muster mit strengen
ziemlich alles ein, was irgendeinen Namen in der Literatur und
Ballotage bei der Aufnahme und exklusiver Führung bestehen Publizistik hatte, von den bloßen Beisitzern ganz abgesehen.
wohl auch hier, aber sie rangieren bei dem ganz anders gearteten Nobenan, im Café Herrenhof, hat außer dem literarischen Sturm
gesellschaftlichen Klima Wiens nicht im Vordergrund. Man ist hie
und Drang die schöngeistige Journalistik ihren Stammsitz,
wesentlich anspruchsloser, man hat kein Verlangen danach, sich während sich die politischen Journalisten im Café Rebhuhn
von der Außenwelt hermetisch abzuschließen, und man hat hier niedergelassen haben,
nur geringes Verständnis für die immer ein wenig zeremonio
Statutengerechtigkeit des Klublebens. Wenn man Umgang mit
Stammgast: Franz Grillparzer.
Menschen sucht, dann soll er wirklich umgänglich, also gemütlich
Der Stammtisch setzt natürlich eine gewisse Seßhaftigkeit
sein, ungezwungen und ohne lästige Förmlichkeit. Und, last, not voraus, Stabilität in der Ausübung des Berufes und folglich
least, ohne die Spesen, die mit der Zugehörigkeit zu einem Klub Behaglichkeit des Daseins. Damit ist es jetzt nicht sehr gut
unerläßlich verbunden sind. Ein Stammtisch tut es eben auch.
bestellt. Der verschärfte Kampf ums Brot hat so manchen,
Es gibt wohl kaum ein Wiener Gasthaus oder Kaffeehaus
scheinbar für alle Ewigkeit festgefügten Stammtisch auseinander¬
das nicht seine Stammgäste und seine Stammtische hätte. Sie sin
fallen lassen und seine Mitglieder in alle Winde zerstreut. Die
der Stolz des Lokals, sie begründen meist sein Renommee. Schlimm
Erinnerung an die schönen Abende von einst aber ist nicht
wenn ein Stammtisch auf die Idee kommt, auszuwandern. Darun
verweht. Noch nach Jahrzehnten weiß man um berühmte
wird er mit ganz besonderer Sorgfalt bedient, verwöhnt und ver
Stammtische. Die Linde in der Rotenturmstraße bewahrt noch
hätschelt. Er ist nicht immer sehr angenehm. Manchmal terrorisiert das Bild auf, das die Stammgäste Alexander Girardi und
er den ganzen Betrieb, aber was will man machen? Man seufz
Adolf v. Sonnenthal zeigt, und im Café Museum, wo sich auch
und fügt sich den Launen: es ist halt der Stammtisch! Vor dem die Maler und Bildhauer der Sezession täglich zusammenfanden,
man Respekt hat. Nicht bloß, weil er eine sichere Einnahme bedeutet
gedenkt man des großen Operetten=Stammtisches, dessen Mittel¬
sondern weil häufig genug um ihn Menschen sitzen, die selbst etwas punkt der Direktor des Theaters an der Wien Wilhelm Karczag
bedeuten, in Politik und Verwaltung, in Wissenschaft und Kunst, war und an dem man Franz Lehar, Leo Fall, Oskar Strauss,
Menschen mit scharf konturiertem Profil. Sie kommen nicht
Emmerich Kalman, Louis Treumann, Robert Bodansky und
zusammen, um einen Abend bloß mit Essen, Trinken und Tratsch noch viele andere aus dem Reich der Operette sehen konnte
hinzubringen. So wollen einander auch etwas sagen, um einander Theaterleute, die mit ihrem starken Verbrauch von Nervenkraft
wissen, in Fühlung bleiben, etwas hören, Anregungen empfangen, das Bedürfnis nach Entspannung an einem fröhlich gestimmten
Ideen und Pläne durchsprechen.
Tisch empfinden, sind überhaupt die besten Stammtischgründer
und bringen immer auch gleich ihr Gefolge ins Haus. Man
Luegers Weinstüberl.
findet sie bei der Schöner, im Griechenbeis, im Weingartl, im
Mitunter vernimmt man das Wort Stammtisch in Goldenen Hirschen auf der Alserstraße, wenn auch nicht mehr
degradierenden Anführungszeichen. Das mag oft und oft seine
jene Regelmäßigkeit wie früher besteht, wo man zu einer be¬
Richtigkeit haben. Aber gerechterweise ist nicht zu vergessen, daß stimmten Stunde mit Sicherheit damit rechnen konnte, den oder
von den Stammlischen auch wertvolle Impulse ausgehen, daß
jenen an seinem Stammtisch anzutreffen. Die Pedanterie eines
hier schon Bewegungen entstanden, die sehr ernsthaft waren. De¬
Franz Grillparzer zum Beispiel, der auf die Minute genau sich
großen Wiener Bürgermeisters Dr. Karl Lueger blendende an seinem Stammtisch im Matschakerhof niederließ, ist längst
Karriere nahm an einem Stammtisch ihren Ausgangspunkt, und nicht mehr möglich. Dazu ist man viel zu sehr in Anspruch ge¬
er ist auch auf der Höhe seines Wirkens und Ruhmes den nommen und den Improvisationen des Lebens ausgesetzt. Aber
Stammtischgepflogenheiten treu geblieben, als er in dem unter wenn man auch fluktuiert, man findet einander doch und hält
seinem Regime errichteten Rathauskeller für ein eigenes „Rats
aneinander fest. In dieser Beziehung ist der Stammtisch beim
stüber!“ Vorsorge traf. Politik am Stammtisch muß sich also Metzger auf der Landstraße vorbildlich, wo sich wöchentlich
durchaus nicht immer auf primitive Bierbankweisheit und einmal die Generale der alten Armee treffen.
sterile Kannegießerei beschränken.
Die Ludlamshöhle.
Wo Dichter und Tragöden
Will man jedoch vom berühmtesten Wiener Stammtisch
zu Hause waren.
sprechen, dann muß man sehr weit zurückgreifen, bis in de¬
Noch deutlicher wird die kulturelle und geistige Funktio¬
Vormärz. Es war im Jahre 1816, daß sich im Blumenst
der Stammtische, wenn es sich um Literatur und Kunst handelt
in der Ballgasse eine Tischgesellschaft von Dichtern, Sch
Aus dem berühmten und auch geschmähten Café Griensteidl au
stellern, Gelehrten, Künstlern und Musikern gründete, den
dem Michaelerplatz wurde jene Renaissance der Wiener Literatur
Teilnehmerzahl rasch anwuchs und die sich ein Jahr später den
in die Wirklichkeit hinüberdebattiert, die sich in den Namen
Titel eines Theaterstückes, des dramatischen Märchens „Dudlams¬
Hermann Bahr, Hugo v. Hofmannsthal und Artur Schnitzle
höhle von Adam Oehlenschläger, beilegte. Dieser Stammtisch
glanzvoll verkörperte. Im Löwenbräu, das dann dem repräsentierte wirklich das geistige Wien von damals Seinem
Expansionsbedürfnis der Bodenkreditanstalt zum Opfer fiel
Kreis gehörten Grillparzer, Castelli, Deinhardstein, Zedlitz, Seidl,
hatten die Herren des Burgtheaters ihren Stammtisch, wo sich
Saphir, die bekanntesten Schauspieler mit Anschütz an der Spitze,
Hamlet und König Lear, Don Carlos und der Richter von
dann die Musiker C. M. v. Weber, Salieri, Moschelles und
Zalamea ihr Schnitzel und ihr Glas Bier ausgezeichnet schmecken
Gyrowetz sowie eine Reihe von anderen Persönlichkeiten an.
ließen. Seine Glanzzeit hatte dieser Burgtheaterstammtisch, alt
In der Ludlamshöhle ging es überaus lustig zu, viel Esprit
ihm der Direktor Dr. Paul Schlenther präsidierte, der sich hie¬
wurde hier versprüht, aber auch viel Humor von jener Sorte
noch bedeutend mehr zu Hause fühlte als drüben in seine
verzapft, die nicht mehr gesellschaftsfähig ist. Bezeichnend für
Direktionskanzlei. Hieher, ins Löwenbräu, brachte auch
Zete
den Ton war, daß die Kandidaten, die Zutritt zur Ludlams¬
Altenberg seinen zahlreichen Anhang, wenn er nicht im Café höhle erlangen wollten, sich einer Prüfung aus der „Frivolitäts¬
Zentral in der Herrengasse an seinem Stammtisch, der wohl zu
wissenschaft“ unterziehen mußten. Prüfungskommissär war der
Dichter Castell. Im Jahre 1828 setze die Polizei der Fröhlich¬
keit ein Ende. Aber nicht aus Gründen einer übertriebenen
Prüderie, sondern weil die Tätigkeit der „Carbonari“ in
Italien den Wiener Polizeioberdirektor Persa auf die Ver¬
mutung brachte, die Budlamiten wären politische Verschwörer.
Nach dem Vorbild der Ludlamshöhle wurden übrigens später
ähnliche gesellige Vereinigungen gegründet wie die Concordia,
nicht zu verwechseln mit dem gegenwärtig bestehenden
Journalisten= und Schriftstellerverein, dann das „Supirium",
die „Baumannshöhle" und endlich die „Grüne Insel".