VII, Verschiedenes 13, 1934–1935, Seite 59

13. Miscellaneous
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Das achtzigjährige Mädchen
Wir haben das achtzigjährige Mädchen am Neu¬
jahrstag zum letztenmal gesehen. In einem gastfreund¬
lichen Wiener Haus, wo sie wie in so manchem anderen
zu den beliebtesten, stets freudig begrüßten Besuchern
zählte. Sie trug wie gewöhnlich die schwarze, ein wenig
altmodische Mantille, um den Hals eine blütenweise
Krause und an den Fingern makellose, sorgsam ge¬
schonte Zwirnhandschuhe. Und als man ihr irgendein
banales Kompliment über ihr Ausschen machte, da
überzog die elfenbeinfarbigen Wangen ein jung¬
fräuliches Erröten, und die achtzig Jahr waren wie
durch ein holdes Frühlingswunder weggewischt. Sie hat
kein leichtes Leben gehabt, aber dafür einen schweren
Tod. Da steht die alte Dame in der Abenddämmerung
an einer Straßenbahnhaltestelle und friert ganz ge¬
hörig. Ihre so peinlich instand gehaltene Garderobe
reicht gerade hin, um in den Salons der Begüterten und
Vornehmen, in denen sie verkehrt, nicht unangenehm
aufzufallen; aber auf die Unbill des heurigen Winters
ist sie nicht eingerichtet. Da kommt endlich der ersehnte
Straßenbahnzug, und die Greisin atmet erleichtert auf.
Noch ein paar Minuten und sie wird in ihrer beschei¬
denen Behausung die alten, frosterstarrten Glieder am
Ofen erwärmen können.
Einfalscher Schritt, ein Sturz, unter der
Schutzvorrichtung! Leute laufen zusammen, Stimmen¬
gewirr Angstschreie des Entsetzens. Jetzt ertönt das
Horn der Feuerwehr. Der Wagen wird gehoben. Unter
der Schutzvorrichtung zieht man eine Leiche
hervor.
Das war das Ende Karoline Leitners, des acht¬
zigjährigen Mädchens, dass nie in die Oeffentlichkeit
getreten ist, und dem doch so viele der älteren Genera¬
tion, und nicht gerade die Schlechtesten, schöne Stun¬
den anregenden, befeuernden, herzerwärmenden Bei¬
sammenseins dankten. Sie hat sich niemals auf die
Literaturkennerin, auf die feinsinnige Kritikerin heraus¬
gespielt, und war doch beides. Die Besten des Wiener
Schrifttums, Artur Schnitzler und Anton
Wildgans etwa, um nur die Toten zu nennen, sind
in ihr bescheidenes Stüchen gewallfahrtet und sind
dann, wie sie selbst bezeugten, durch ihre Güte, ihre
Begeisterungsfähigkeit, ihren schalkhaften Humor,
durch all die reichen Talente ihres Herzens
reich beschenkt, von ihr geschieden.
Sie kannte alles und alle. Sie las alles, was lesens¬
wert war. Sie machte sich ihre Gedanken drüber, ohne
sie jemals unaufgefordert aufzudrängen. Sie stammte
aus begütertem, sogar aus reichem Haus. Es mag ihr
in ihrer Jugend viel gehuldigt worden sein. Warum sie
einsam blieb, das hat sie als ihr unverbrüchliches Ge¬
heimnis mit ins Grab genommen. Und dann kam der
Niedergang dieser Wiener Buddenbrooks wie sovielen
anderer. Die Tante Cara, wie sie im Freundeskreis
vertraulich genannt wurde, behielt den Kopf oben,
ließ sich nicht unterkriegen. Es hies eben, sich ein¬
schränken. Das war eine Kunst, die sie bis zur
Vollendung gebracht hat. Ohne jemals ein Wort
darüber zu verlieren, mit stets lächelndem Mund. Sie
verstand es auch als Verarmte, als Frau, die von der
bitteren Sorge für das Morgen bedrängt war, mit denen,
die es im Leben besser getroffen hatten, auf gleich
und gleich weiter zu verkehren. Als ob die Schicksals¬
schläge, die sie getroffen hatten, nur ein böser
Traum gewesen wären!
Unter ihrer sich stets gleichbleibenden Liebens¬
würdigkeit und Dienstbereitschaft, von der so viele,
wenn sie gerade kein schlechtes Gedächtnis haben, zu
erzählen wüßten, verbare sich das Bismarcksche: „Wo