VII, Verschiedenes 13, undatiert, Seite 171

13.
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Wien 4.
Franz Servaes, „Wien“. Briefe
an eine Freundin in Berlin, Buch¬
schmuck von Hermine Heller=Oster¬
setzer (Leipzig, Klinkhardt & Vier¬
mann).
Es ist eine anmutige und wahr¬
haftige Ergänzung zum Ba¬
deker, die hier ein Rheinländer,
der lange Jahre in Berlin ver¬
bracht hat, über die österreichische
Hauptstadt beibringt. Und dies drei¬
eckige Verhältnis hat sein Gutes.
Der Berliner gab die Sachlichkeit
her, der Kölner die Wärme, der
Wiener die hübsche Form. Nicht
mit der Keule Kürnbergers trifft
er die Schwächen der Rassen¬
mischung, aber auch er trifft sie;
nicht mit der liebkosenden Hand Hugo
Wittmanns streichelt er die liebens¬
würdigen Oberflächlichkeiten der
Wiener Frau, aber auch er ge¬
winnt ihr ästhetische Reize ab. Wie
sein stellt er die beiden Aufgaben
gegenüber: Berlin will werden,
Wien soll bleiben! Mancher
Tropfen Wermut perlt in dem
zweiten Lebensbecher, aber Servaes
zeigt eben, wie köstlich das ist,
was erhalten bleiben soll. Und
ganz ohne Einschränkung gilt dieser
Konservativismus nicht. Denn wenn
auch etwa Hofmannsthals Kunst
bedingt und abgeleitet, aus Ver¬
gangenheiten auferbaut ist, wenn
auch Schnitzlers Werk der energisch
vorwärtsweisenden Kraft entbehrt
und Klimts höchster Vorzug der
Geschmack ist, so gibt's doch noch
einen Charakter wie Karl Schön¬
herr, den nur die Gegenwart küm¬
mert und der mit der Anerbittlich¬
keit des Naturgeschöpfes, das sich
an Jours und Feuilletons niemals
verlieren kann, seinen eigenen Weg
und seine eigene Nahrung sucht.
Servaes wird ihm gerecht; er hebt
ihn unter die vier Repräsentanten,
die er nennt, empor, und seine
Würdigung hat hier einen bewun¬
dernden Herzenston.
Als ich wieder einmal einige
1. September heft 1908
Tage in Berlin war, empfand ich
das Pflichtbewußtsein, das alle Ge¬
schäftshäuser und Straßen erfüllt, so
wohlig, daß mir Kant in Erinne¬
rung kam und ich gerne etwas
über die Asthetik der Pflicht nieder¬
geschrieben hätte. Davon mag der
Wiener nichts wissen, und wenn
er dann und wann in die Nach¬
hut der modernen Entwicklung ge¬
rät, so liegt das wohl an der Ab¬
neigung gegen das nüchterne Ziel¬
bewußtsein. Noch in keinem Buche
ist es gelungen, die Seele Wiens,
des Wieners und des Österreichers
mit ihrer Lust an Hemmungen und
ihrer Unlust am Kampfe so ohne
Voreingenommenheit abzuschildern
wie hier. Aber nirgends wird dem
Norddeutschen der Mund so wässerig
gemacht nach Wiens Schönheiten,
und ich denke, die Brücke müsse
nun geschlagen sein, die den Ver¬
liner voll guter Erwartung zu uns
herübergeleitet. Ferd. Gregori