VII, Verschiedenes 13, undatiert, Seite 176

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Nachdruck verboten.
Wiener Kultur im Spiegel jung=wiener Dichtung
Von W. Fred.
Man berichtet weit mehr über Kultur als über Litteratur,
wenn man von Jung=Wien spricht. Als dichterische Werke
werden die Theaterstücke und Bücher selbst der besten und
vollsten Wiener portischen Naturen einer späteren Zeit wenig be¬
deuten, wie sie ja schon heute im fremden Lande (selbst der
gleichen Sprache) nur eine kleine Gemeinde zu sammeln ver¬
mögen. Allein es sind Zeugnisse vom Wesen der Stadt Wien
am Ausgange des neunzehnten Jahrhunderts, möchte ich noch
immer sagen und damit aussprechen, daß das zwanzigste Jahr¬
hundert, eine junge neukräftige, neuansetzende Epoche der
Dichtung für Wien noch nicht gekommen ist. Die letzte Blüte
einer sterbenden Stadt — man kommt über diesen Eindruck nicht
hinweg. Die Jung=Wiener selbst haben ihn — das erklärt die
Intensität der Liebe, die sie an ihre Heimat bindet, das bringt
den Ton der Wehmut und auch der Erbitterung, oft des Zornes
in jeden Erguß eines Wiener Künstlers über „seine Stadt.
Wenn ich nun hier die Wiener Kultur im Spiegel jungwiener
Dichtung besehen lassen will, und sage, es sei eine tote Stadt,
o möchte ich mahnend bemerken, daß es bei einer weiten
Anschauung den Begriff des endgiltigen Sterbens nicht giebt.
Das „Totsein" kann nicht mehr als eine zeitlich begrenzte
Stagnation bedeuten, die Periode des Verblutens, des Aufgebens
angesammelter Kräfte und Eigenschaften, bevor neues Leben
kommt, und es verlohnte auch nicht, den Berliner Begriff von
Wien zu korrigieren, wenn nicht zu sagen wäre, daß all jene
wesentlichen Eigenschaften, die die materielle Schwäche des
österreichischen Volkes, der Wiener Stadt ausmachen, auch die
Stärke der Kultur dieses Stammes begründen. Die Wiener
sind in den Augen des Norddeutschen das gemütliche, lässige,
faule Volk. Das Schillersche Wort von den Phäaken klingt
noch in aller Ohren, die Schellen des Wurstlpraters läuten,
unser weicher Dialekt wirbt Freunde, man entsinnt sich
des Burgtheaters, der Schauspielkunst und Komödianten
verhimmlung — und dann kommen schrille Töne der Politik
die Dürre des wirtschaftlichen Lebens ist bekannt, und das
Wohlwollen der Wiener Stadt gegenüber wandelt sich allmählich
in eine leise kleine Verachtung — eigenes junges Kraftgefühl
wird solchem unieugbaren Verfall gegenüber leicht ausgelöst.
Die Götter mögen uns vor der Politik schützen! Doch der
Einsichtige sieht den Grund aller Misere in der Tradition der
alten Kultur, die uns erdrückt. Manchmal gewinnt in dem
Gefühle des Wiener Aestheten die Heimatstadt die Züge
Venedigs. Man mag solche Stimmung aus den Büchern der
letzten zehn Jahre lesen. Man wird da Andeutungen darüber
finden, wie solche Zeit kommen konnte. Man wird seinen Begriff
ergänzen können. Und man wird die Anknüpfung an jene
österreichischen „Dichter finden, die noch kräftigere Naturen
30 oder 50 Jahre früher — den Weg ins Deutsche Reich eher
fanden als die Zeitgenossen jetzt. Raimund und Nestroy,
Anzengruber und Grillparzer, zu diesen Poeten vermag sich jeder
Deutsche seine Brücke selbst zu schlagen. Auch sie drücken
österreichisches und Wiener Wesen rein aus; da ist Raimund der
Märchenhafte, weiche, lässig philosophierende; dann Nestrey derb,
drastisch, auch er ein Weltweiser und Moralist wie alle echten
Wiener, dann Anzengruber, in dem sich die österreichische Welt
am unverfälschtesten spiegelt mit allen Differenzierungen der
Gefühle, vom engsten Egoismus bis zur weichsten Aufgabe
eigener Natur, und der ganze Mikrokosmus gruppiert um ein
philosophisches System, als dessen letzte Lehre der moralische
Stoicismus des Steinklopferhans da ist: Mir kann ni¬
geschehn, Wiener Hellenismus, eng an der Grenze jung wienerischer
Anschauung; und schließlich der Eigenste: Grillparzer, ver¬
schlossen und griesgrämig, hart und weich, stets bereit, die Welt
der nächsten Umgebung zu verlassen, auf der Suche und Flucht
einer idealistischen Welt, der Wiener Klassizist. An diese Vier
muß gedacht werden, wenn nun von Jung=Wienern die Rede
gehen soll, um das heutige Wesen dieser Stadt zu umschreiben.
„Jung Wien“ — das giebt es nämlich in der That. Es
sind unter da von besonderer Art, und man kann ihre Werke
empfehlen, weil es Kulturdokumente sind. Die Autoren dieser
Bücher selbst sind weit mehr ideale Repräsentanten ihrer Zeit
als Vorboten einer kommenden; so konnte ihre Stärke auch vor
allem darin liegen, Typen zu prägen, für Menschen, die in dieser
Stadt herumlaufen, einen Ausdruck zu finden, der das Bild des
Alltags= und Durchschnittsmenschen für die Kulturgeschichte
festhält. In der natürlichen Folge geschah es dann, daß die
manchmal etwas verschobenen, weil durch ein künstlerisches, und
nicht immer rein wienerisches Temperament gesehenen) Typen
aus der Litteratur in die Wirklichkeit rückten, daß also jene Ein¬
wirkung der Kunst auf die Natur sich einstellte, die man im
Diese moralisierenden Züge zusammen mit einem leisen Humor,
mit einer plastischen Kraft, Menschen und Charaktere heraus¬
zubringen, ist die beste Gabe Bahrs, zugleich das Oesterreichische,
das in ihm ist. Er hat eine kräftige Natur — und die fehlt
den meisten anderen Jung Wienern.
Mehr als es den Anschein hat, ist die zweite Gruppe Jung¬
Wiener von Bahr entfernt. Schnitzler, Hoffmannsthal, Beer¬
Hoffmann. Diese Dichter sind Kulturmenschen. Ihre Kraft
wurzelt nicht im Leben, sondern in schönen Büchern, Bildern,
Vorstellungen. Sie sind Aestheten. Ihre vornehmste Gabe ist
der Geschmack die Kunstform. Sie sind alle Stilisten. Und sie
sind zart, sensibel, etwas schwermütig. Deshalb sind Schnitzlers
wundervolle Novellen, sein Roman „Frau Berta Garlau“ erfüllt
von süßer Wehmut, von etwas kranker Weichheit. Ich wiederhole
was dem Einsichtigen ja so wie so klar, das alles ist kein Tadel,
kann ja keiner sein; es sind Feststellungen, die für die kultur¬
historische Bedeutung dieser Dichter und ihrer Werke bedeutsam
sind. Die Sehnsucht dieser Menschen geht nach Kunst, nicht
nach Leben. Deshalb ist die Renaissance das Ziel ihrer Träume.
Schnitzler ist der einzige unter ihnen, der noch Wirklichkeitssinn
hat. Doch auch er ist weit entfernt vom Realismus. Er sieht
die Menschen in ihrer Schicksalsstunde an, fast immer ist das
Problem seiner Dichtung die Art, wie sich Menschen an ihrem
schwersten Tage erweisen. — Die Kunst Hugo von Hoffmannsthals
ist Treibhauskunst. Er ist ein Mensch von unsagbar seiner
Kultur, von einem ungemein entwickelten Formensinn und vielem
Wissen. Seine Dichtungen gehören zu den vornehmsten artistischen
Werken unserer Zeit. Allein ihre Quelle ist nicht das Leben,
sondern die Kultur vergangener Jahrhunderte. Er und jedes
seiner Werke ist undenkbar ohne tausend Vorläufer aus allen
Blütezeiten dichtender und bildender Kunst aller Völker. Deshalb,
weil er zum kräftigen wirklichen Leben keine unmittelbare Be¬
ziehung hat, sind seine Werke immer kühl, greifen nie in unser
Tiefstes. Er ist ein Vollbild des Aestheten. Im übrigen: Er
ist noch nicht 30 Jahre alt. An seiner Seite steht Richard
Veer=Hoffmann. Von seinem „Tod Georgs" ist ebenfalls zu
sagen, daß es ein weltfremdes, weltabgewandtes Buch ist, die
Dichtung eines Träumers, eine Schöpfung für die ganz
wenigen, ich möchte das Wort wagen: es ist ein dekoratives
Buch; damit soll gesagt werden: es könne nur durch seine
Form wirken.
Nahe diesen Dichtungen steht eine Novelle Felix Saltens
„Die Gedenktafel der Prinzessin Anna", die in frech künstlerischer
Art in das Italien vergangener Jahrhunderte führt und sich
durch glänzende Stilkunst auszeichnet. Diese Geschichte mu߬
man lesen; ihren erotischen Witz kann man hier nicht einmal
andenten.
Herr Peter Altenberg, einer der bekanntesten Jung=Wiener,
ist gewiß gekränkt, wenn man ihn in diesem Zusammenhange
nennt. Er, der in seiner Selbstbiographie (in „Was mir der
Tag zuträgt“) von sich sagt, sein Lebenselement sei die Liebe zu
allen Mitmenschen, ist ein Hasser. Dieser Widerspruch geht
durch sein Leben, durch sein Schaffen. Was er schreibt, ist eben
nur Konstruktion, niemals eint ein starkes, aufrichtiges Gefühl
seine Beobachtungen und Klugheiten. Unter den Jung=Wienern
ist ihm der stärkste Intellekt gegeben. Deshalb konnte er sich
eine Kunstform schaffen, die seinen psychologischen Skizzen ein¬
dringliche Wirkung sicherte, in der er allerdings nun erstarrt ist.
Deshalb konnte er auch eine Reihe von Wiener Typen prägen,
die mehr oder minder kulturwahr sind, sicherlich aber in den
letzten fünf Jahren sehr auf die Gestaltung des Wiener Frauen¬
Sowie Schnitzler den Typus des
tus eingewirkt haben.
süßen Mädels" und des „Anatol", des psychologisierenden
Liebhabers schuf, so hat Altenberg für die Seelenzustände und
das Wesen der jungen Frau charakteristische Ausdrücke gefunden.
Eine Wienerin schlechtweg ist diese bis in die allerletzte Faser