I, Erzählende Schriften 35, Therese. Chronik eines Frauenlebens, Seite 5

35. Theres
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Vossische Zeitung, Berlin
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aon. 19287
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Soh a 3
1928
nt. " 29. April

(Arthur Schnitzlers „Therese
Diese „Chronik eines Frauenlebens“ (erschienen bei S. Fischer,
Berlin), ist eines der stärzsten Bücher Arthur Schnitzlers. Die
große Einfachheit in Aufbe# und Führung, die scheinbare Kunst¬
losigkeit der Erzählung köhnen dazüber nicht täuschen, daß hier
ein Meister Menschenschicksale steht und darstellt — es gibt
eine Meisterschaft des Sehens, sie ist fast seltener noch als die
Meisterschaft der Darstellung, sie verlangt Sachlichkeit, Charakter,
Wahrheitsliebe: dieser Dichter besitzt sie — darstellt als neutraler
Berichterstatter, der nichts dazutut, nichts unterdrückt um irgend¬
einer „künstlerischen“ Gruppierung und Wirkung willen, der aber
bei äußerster Knappheit der Mittel noch Gestalten scharf zu um¬
reißen, fest auf beide Füße zu stellen weiß. Da ist eine lapidar¬
Daseinskonstatierung, ein Mensch steht da, sonst nichts, ohne
Heben der Stimme, ohne unterstreichende Gestikulation ist seine
Existenz gegeben, und das bloße Dasein wird Anklage gegen eine
ungreifbare irdische oder göttliche Instanz, um so eindringlicher,
als sie gänzlich unpathetisch, ohne den Schatten einer Tendenz ist.
Es ist das Leben einer Frau, die, ein Mensch, wie tausend andere,
zu schwach, das Leben durchzukämpfen, nicht schwach genug, sich
fallen zu lassen, in einem ganz unglückseligen Zwischenstadium
steckenbleibt, wie sie die moderne soziale Ordnung für die vielen
Menschen ihres Schlages bereit hält. Erzieherin, halbe Sklavin,
die einem bestimmten Lebenskreis nur scheinbar zugehört und
um so stärker empfinden muß, wie sie nirgends zugehört.
Ihre Geschichte wird die Geschichte von der Heimatlosigkeit, der
trostlosen Einsamkeit des Menschen werden, der Fluch der Ein¬
samkeit, selbstverschuldet wie auferlegt, wird über ihrem Schick¬
sal stehen. Hier gibt es kein Entrinnen, es ist immer die gleiche
Enttäuschung, ja das Vorauswissen der gleichen Enttäuschung in
allen menschlichen Beziehungen, Beziehungen zu Zöglingen, Liebes¬
beziehungen — überall die gleiche Ferne am Grunde der schein¬
baren Annäherung, zu tiefster Fremdheit, ja Feindseligkeit ge¬
steigert in dem entscheidenden Verhältnis ihres Lebens, dem
Verhältnis zu ihrem Sohn.
Provinzielle Enge, zweifelhafte Atmosphäre hat sie früh zur
Flucht aus dem Elternhaus gezwungen. Der Vater wahnsinnig,
die Mutter halb Kupplerin, halb Schundliteratin, der tückische
Bruder, der öde Jugendfreund, das erste Verhältnis mit dem
Offizier — wie typisch diese ganze Kläglichkeit ist, und doch wie
unschematisch, weil alles lebendig, weil es wahr ist. In der Gro߬
stadt ist bald eine „gute“ Stellung gefunden, hier wird ihr zum
erstenmal ihre Beziehungslosigkeit zu aller Umwelt bewußt. Ge¬
fühl der Einsamkeit treibt sie in die Arme des lächerlich=phan¬
tastischen, schwindelhaften und zugleich rührenden Menschen, der
der Vater ihrer Kinder wird. Die Geburt des Kindes wird ein
Höhe= und Angelpunkt der Erzählung: die elementare Auflehnung
soder gepeinigten Kreatur gegen das ungewollte Leben, der Todes¬
wunsch gegen das Kind, in dem sie vielleicht dunkel den zukünfti¬
gen Feind schon ahnt — ein entscheidender Liebesentschluß hätte
ihr vielleicht in ihm den zukünftigen Freund geschaffen. — Nun
folgt eine Zeit des Irrens von Familie zu Familie, jede ist
mit wenigen Strichen angedeutet, charakterisiert, überall ein an¬
deres Elend, überall das gleiche Elend — eine Zeit des Irrens
von Liebesbeziehung zu Liebesbeziehung, eine ärmer als die
andere, während das Kind am Lande in Pflege ist. Das anfangs
gute Verhältnis von Mutter und Sohn beginnt bald sich zu ver¬
dunkeln, das Kind entwickelt üble, fast verbrecherische Anlagen,
es wird vom Land in die Stadt, von einem Haus ins andere ge¬
bracht, schließlich nimmt die Mutter, ihre Lebensverhältnisse um¬
stellend, den Sohn ganz zu sich. Es ist umsonst; ohnmächtig, durch
Einfluß oder Gewalt die Entwicklung zu hemmen, muß sie einen