I, Erzählende Schriften 35, Therese. Chronik eines Frauenlebens, Seite 6

Therese
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39. J.
her neben sich aufwachsen sehen. Unvergleichlich gelungen
i Dichter dieser Bursche in einer Mischung von träger Bös¬
Lit, Verkommenheit und Mitleidswürdigkeit: liegt doch die
nhuldung ebensowohl in ihm wie außer ihm, in dem Schickse
des die Mutter ihm bereitet hatte, bereiten mußte, selbst wie
gezwungen von Umständen, die nicht sie zu verantworten hat.
Einen Augenblick lang scheint es, als ob das Verhängnis sich d )
nicht erfüllen müßte, der Sohn geht seiner Wege, neue hoffnungs¬
volle Beziehungen knüpfen sich, zu einem jungen Mädchen, zu
ihrem Vater, einem mit köstlichem Humor geschilderten älteren
Herrn, der als später Freier auftritt — doch die Aufhellung
ist nicht von Dauer, die Freundin tritt in andere Lebenskreise,
des Kreund tritt überhaupt vom Leben ab, der Sohn erscheint
wieder, die Situation wind drohend und treibt rasch der Kata¬
strophe zu, dem Raubüberfall des Sohnes auf die Mutter.
Es gibt Leute, die dem Dichter Arthur Schnitzler vorwerfen,
daß seine Werke von Menschen und Problemen handeln, für die
man sich heute nicht mehr interessiere; die Gesellschaft, die er schil¬
dere, sei im Begriffe, auszusterben, was sie bewegt hat, sei gegen¬
standslos geworden. Selbst wenn man diese zweifelhafte Be¬
hauptung gelten läßt, bleibt es sonderbar, daß Menschen, die im
allgemeinen gegen Kostüm nichts einzuwenden haben und sehr
wohl imstande find, Kostüm von Wesen zu unterscheiden, gerade
gegen das Kostüm ihrer Väter von so gereizter Empfindlichkeit
sind, daß sie alle Besinnung verlieren, Kostüm für Wesen nehmen
und gehässig dagegen losziehen. Es kann sich doch einzig und
allein nur darum handeln, ob es dem Dichter gelungen ist, mehr
als Kostüm zu geben. Ist das nicht der Fall, dann kann nichts
sein Werk vor dem Veralten retten; ist es aber gelungen und
Menschlich=Wesenrliches in die Gestalt eingegangen, dann wird
das Kostüm (auch das „Problem“ gehört zum Kostüm!) eine An¬
gelegenheit des Kolorits, der Drapierung, und wer gegen das Luf¬
tige positiv oder negativ Stellung nimmt, als ob es aus Stein
wäre, macht sich lächerlich. So ist auch dieses Buch ebensowenig
ein bürgerliches wie ein sozialistisches Problembuch, es behandelt
als es
ebensowenig das Problem der „Gouvernante“,
ein Angriff gegen die Abtreibungsgesetze ist: es handelt einfach,
schön und stark von der Unvollkommenheit des menschlichen Lebens.
Und wenn ein Dichter, dessen tiefste Liebe die Wahrheit ist,
dessen ganzes Dasein und Schaffen nichts als Wahrheit will,
menschliches Leben anschaut und darstellt, dann können seine Ge¬
schöpfe ebensowenig „uninteressant“ werden, wie der Mensch selbst,
aus der Mode kommen kann. Viktor Zuckerkandlg
Dr. Alebuhles Abentenerbuch. Bruno Bürgel, der als
Poet und doch mit naturwissenschaftlichem Scharfblick sich im
Weltall und nach seinen Wundern umschaut, hat den „seltsamen
Geschichten des Dr. Ulebuhle“ „Dr. Ulebuhles Abenteuer¬
buch“ folgen lassen. (Verlag Ullstein, Berlin.) Erzählungen für
Jung und Volk nennt er diese Abenteuer, und man kann nur
den Sätzen des Vorworts zustimmen: „Herrgott, was waren es
für wundervolle Abende, wenn der Alte uns seine absonderlichen
Geschichten erzählte aus vergangenen Zeiten ... Sicher hat er
zuweilen geflinkert und geflunkert, der alte Doktor, und dann
und wann war er knurrig und brummig wie ein alter treuer
Wächterhund, dem die Zähne ausgefallen sind. Aber schön, schön
war es doch.“ Ob Bürgels Ulebuhle von „Müller Zirbelwirbel
und dem Tod“ von den Abenteuern des Balthasar Schaumlöffel,
von der Flaschenpost, die Kunde von einem untergegangenen
Segelschiff bringt, erzählen läßt, man hört ihm gern gespannt
zu. Man hat dabei nicht nur eine anregende Unterhaltung, bei
der mitunter das Gruseln kommt: manch tiefe naturwissenschaft¬
liche Erkenntnis, manch ernste philosophische Frage wird als
bleibender Gewinn aus den Erzählungen des schnurrigen alten
Herrn mitgenommen. Der alte Ulebuhle sagt in der Einleitung
zu der Erzählung „Gräsin Perle“: „Alle Dinge können uns lange
und schöne Geschichten erzählen, man muß nur ihre Sprache ver¬
stehen.“ Dieses Wort trifft auch auf Burgel zu. Ein Körnchen
Salz, eine Perle, eine Eintagsfliege, sie geben ihm Stoff zu tief¬
sinnigen belehrenden, aber nie langweiligen Betrachtungen, und
zugleich umgarnt seine dichterische Phantasie all das mit den ab¬
sonderlichsten Einfällen. In diesen Geschichten, die „geflinkert
und geflunkert“ sind, steckt doch tiefe Wahrheit, und man kann
nur hoffen, daß Ulebuhle seinen Vorsatz, „nie wieder lüg' ich
euch etwas vor“, nicht so ernst meint.

SCHNITZLER AS MYSTIC.
THE TRAGEDY OF A“LADy¬
HELR2
(From Our Own Correspondent.)
BERLIN, May 4.
A notable contribution to the great
romances oftlie world based upon analysis
of woman’s tragedy as a woman has been
made by Arthur Schnitzler in the first
long story he has published for years.
* Therese,
published this week, is
11
already the subject of discussion in thef 5
eircles whiere feininists and their enemies
Tare wont to foregather. The“ lady-heip“
of ihe past generation in England is still
a profession adopted by many girls in Ger¬
Fmany and Austria whose education, as in
Therese’s case, was cut short by a father’s
illness and death.
The life-story of a young woman, an ex¬
Tofficer's daughter, who goes from one situa¬
tionto another in Vienna, whio drifts at the
same time from one love-affair to the other,
fatalistically accepting all that life offers,

it may be argued, more typical of
Central Europe than it could be of any
other counitry. But Therese, who has a
S
son, offspring of the first of the casual
amorous acquaintanceships she formed on
her weckly evenings out or Sunday after¬

noons, ruins the boy's life througn her
inabilitv to provide adequately for him.
Schiitzler great artist, doctor and
psychologist, provides one of the most
moving appeals for the unmarried mother
literature knows in the gradual sinking
of the boy into the eriminal classes, and
his eventual murder of his mother for the
small sum slie has refused to give him.
Therese sees in her conscious moinents be¬
fore her dreadful end the just expiation for
her wishing an unwanted child out of the
world again during the first agonised days
of its existence.
Schnitzler as a mystic is new to his great
band of admirers. The long, sober objec¬
tive narrative of a sordid life, incredibly
different in style to the hectic brilliancy of!
bis last study
young woman,
“ Fraulein Else, is the crowning triumph!
of his career.
** Therese.“ Arthur Schnitzler. Pub. S.
Fischer, Berlin.