I, Erzählende Schriften 35, Therese. Chronik eines Frauenlebens, Seite 8

auf
Therese
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35 —.
5. Mai 1928
Nr. 12.374
aus Leichtsinn nicht nehmen läßt, wie sie zuerst plante. Dus
Kind wird aufs Land in Kost gegeben — das Leben geht weiter:
c neue Stellungen, neue Zöglinge, die sie liebt oder haßt, und neue
Liebhaber, die sie in flüchtigen Räuschen darüber hinwegtrösten sollen,
Endbad.
daß sie einsam bleibt, daß sie nur mehr den Frieden des Körpers
moderne
r. Kinder¬
sucht. Sie wird älter, wie man eben älter wird, unmerklich, eingespannt
berkultur,
Kinder von
in das Leben fremder Menschen. Hie und da kränkt sie sich darüber,
egleitung.
öfter erträgt sie es mit Stumpfsinn. Kämpft um die Liebe ihres
Ikunde.
Kindes, dann auch dagegen, daß andere Kinder in ihrem Herzen
s Inter= das eigene verdrängen wollen. Bis sie schließlich dahinter kommt,
daß Franz, ihr Sohn, ein Tunichtgut ist, ein Lump. Er stiehlt,
Welt¬
wird eingesperrt, stiehlt weiter und bald ist es eine Qual für sie,
leichtern.
wenn er nach Hause kommt, um Geld, Kost oder Quartier, meist
werden,
alles zusammen, zu erpressen. Von ihrem Bruder lebt sie getrennt,
wa mit
auch die Mutter, die nun für Zeitungen Romane schreibt, sieht
houierung
sie nur selten. Einsam schüttet sie ihr Herz, wenn es übervoll
revidiert
ist, Männern aus, die ihr dafür, daß sie sich ihnen schenkt, ein
hachbund
mehr oder weniger williges Ohr leihen. Aber keiner, auch
iesse der
Alfred nicht, den sie wieder trifft, reißt sie aus diesem Leben
ern, um
heraus. Vielleicht will sie es gar nicht mehr, ist schon zu müde,
u lassen.
zu abgestumpft.
über die
Einmal nur winkt ihr so etwas wie Glück. Der Vater einer
zu ent¬
ihrer Schülerinnen will sie heiraten. Aber er stirbt vor dem
pf unter
Hochzeitstag und hinterläßt ihr nur tausend Gulden, die ihr Ver¬
hängnis werden. Denn Franz, aus dem Zuchthaus entlassen, hat
intolge„s erfahren und erdrosselt die eigene Mutter, als diese sich weigert,
ist eis ihm einen Teil dieses ihres Notpsennigs auszufolgen. Sie stirbt
dergrund unter den Händen des verrohten Sohnes, schuldig=unschuldig ihm
ltmeister¬
gegenüber wie auch gegen sich selbst. Sie hat ihr Leben verzettelt,
hat, ist
wie sie, kraftlos und Stimmungen unterworfen, auch die Erziehung
cas auf¬
des Sohnes verschlampt hat.
fer
und
So schreibt Schnitzler die Chronik eines Frauenlebens und
Schach¬
zugleich den Roman seelischer Schlamperei. Würde aber auch heute
durch
noch ein Frauenleben so verlaufen, zwischen Zufällen, Unter¬
ltmeister¬
lassungen, Sünden gegen die Vernunft, Verstößen gegen die
hen, der
eigene Würde? Unwahrscheinlich. Und darum ist dieser meisterhaft
Abererzählte Roman zu lesen wie eine Geschichte aus verklungenen
Plan zu Zeiten, was sie zugleich entgistet, ihr das Stigma des absolut
1 Kopen=Tragischen nimmt. Uebrig bleibt ein weibliches Bohemeleben voll
zowitsch.
f. I.
Spannung und eigenartigem Reiz.
errungen
Schlie߬
d lebende
Raubüberfall in Berlin.
Moskauer
a wurde.
Drei junge Burschen plündern ein Herrenkonfektions¬
n großen
geschäft.
ntscheiden
Berlin, 4. Mai.
nhat.
Das Opfer eines Raubüberfalls wurde heute nachmittag der
Schneidermeister und Konsektionär Abraham Unger in der
Gollnowstraße. Das Geschäft wird hauptsächlich von jungen
an.
Leuten und Arbeiterburschen besucht. Heute nachmittag erschienen
drei junge Burschen, die schon mehrmals dort gewesen waren. Sie
sanden den Geschäftsinhaber in seinem Laden allein vor. Als der
sich und Schneider sie bediente, erhielt er plötzlich einen heftigen Schlag
ing zahlte über den Kopf, so daß er zu Boden stürzte. Die Burschen rafften
keinen eine Anzahl von Kleidungsstücken zusammen, um mit ihnen den
ben seiner
Laden zu verlassen. Der Schneider hatte sich inzwischen erholt
cht ohne
und trat den Räubern entgegegen. Es entspann sich ein Kampf.
hne Tage.
Auf die Hilferuse des Schneiders benachrichtigten Passanten einen
ich. Da
Schutzpolisten, dem es gelang, einen der Räuber sestzunehmen,
grauen“,
die anderen entkamen.
Voraus¬
Offiziers¬
neuesten
Die Gefahr der zwei Prozent
Berlin er¬
nicht in
Tonormale.
„Therese“ von Artur Schnitzler. Ein neues Werk von
Artur Schntzler bedeutet immer ein Fest für den Kenner
und Ehrer der modernen Literatur. Jetzt liegt uns ein neues
Werk des Meisters „Therese“ (Verlag S. Fischer, Berlin) vor
und es sei vorerst nur mit wenigen Worten auf dieses herrliche
Werk die allgemeine Aufmerksamkeit gelenkt. Schnitzler erzählt
darin den Roman, nein, die Romane einer Erzieherin, ihre
Irrungen und Wirrungen, ihre fast immer vom Unheil ver¬
folgten Liebesabenteuer, und den Untergang dieses erblich
lbelasteten Wesens, das ihr uneheliches Kind töten wollte und
schließlich von dem wilden, verlotterten, verkommenen Jungen
getötet wird. Die Fülle des Geschehens in diesem Roman —
zin dem mehr Philozophie zu finden ist als in den dickleibigsten
der Lebensweisheit gewidmeten Büchern — überwältigt die
Leser und die mit Meisterschaft gezeichneten Nebenfiguren ver¬
hüllen hin und wieder — zumal bei flüchtiger Lektüre — den
AAusblick auf die Hauptgestalt des Werkes. Freilich: der auf¬
merksame Leser wird immer aufs neue die große Kunst
Schnitzlers bewundern, der auch hier wieder Menschenherzen
bloßzulegen vermag, wie dies nur ein Poet von seiner Tiese
und Güte imstande ist. Man muß — wenn man durchaus
Analogien suchen will — bis zu Flaubert und Gonoourt
zurückgehen, um ein Werk von ähnlicher Bedeutung und Wir¬
kung wie „Therese“ zu finden. Denn, wie bei den genanziten
Größen des französischen Romans, sind einzelne Parliendes
neuen Schnitzler=Werkes im einfachen Chronikstil verfaßt, oft
jedoch erheben sich manche Kapitel zu dichterischen Höhen, zu
S
denen nur die genialsten Romanciers der Weltliteratur sich
aufzuschwingen vermögen. Im Roman „Therese“, sei ins¬
besondere auf die Kapitel: Geburt des Kindes, Tod des alten
Wohlschein, Kampf zwischen Mutter und Sohn und das Ende
der unglücklichen Erzieherin hingewiesen. Wir wiederholen:
Hier liegt ein Meisterwerk vor, das Bewunderung wachruft
und dem eine erste Stelle in der Romanliteratur unserer Zeit
gebührt. Es wird sich noch oft die Notwendigkeit ergeben,
„Therese“ eingehend und gründlich zu besprechen.
Fred M W
s
5
nu Sbac
Arthur Schnitzler: „Therese.“
S. Fischer Verlag, Berlin.
Stärkster Eindruck dieses Romans: wie ein Mensch hineingezogen
loird — in das Leben, in den Strudel, in den Uniergang. Wie
hier eine Frau gleitet, fällt, stürzt, langsam sich wieder nach oben
zu winden scheint, und dann durch ihren mörderischen Sohn stirbt.
Lange schwebt das Beil des Schicksals über ihr. Es bewegt sich.
pendelt, aber ehe es herabsaust, beginnt noch einmal die Sonne zu
leuchten. Fahl, verhüllt, traurig, aber doch die Sonne.
Was ist die Frau?! Leuchtendes Mädchen mit starken Süchten
S im Beginn, ein abgehärmtes, verbittertes Ding am Ende, das sich
mit dem Sohn vor dem armseligen Küchenschrank um Geld balgen
muß. Das Leben dieser Therese ist nicht das einer Heiligen. Aus
kranker Offiziersfamilie, befeindet und hilflos gelassen, heraus¬
wachsend, geht sie durch die Hände inäbischer, bösartiger, törichter.
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leichtfertiger Männer den Weg einer Erzieherin, die an den Tischen
fremder Leute sitzt, ein bestenfalls bemitleidetes Schattenwesen, dessen
— hübsches Gesicht die Küsse anlockt. Langsam blühen ihr Wille und
Fleisch ab. Markanteste Zäsur: ein strolchhafter Bohemien macht ihr
ein Kind. Sie trägt es einsam und stolz. Ganz spät, da der Junge
längst ein von der Polizei gesuchter Verbrecher ist trifft sie seinen
— Vater wieder. Er ist noch genau so salopp und geschmeidig=unverbind¬
S lich. Nur grau jetzt und mit trüben Trinkeraugen. Sie erfährt. daß
er „damals“ schon eine Familie von vier Kindern hatte. „Und Du?
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Du hast auch ein Kind?“ Sie bejaht es, und er fragt nicht weiter.

Springt aus Angst vor der Antwort auf eine Straßenbahn.
S Solche Szenen sind Schnitzlers, des Melancholisch=Wissenden, ein¬
prägsamste Arbeit. Seine „Therese“ bleibt dem Lesenden in ihrem
— langsamen Vernichtetwerden, diesem aus innerster Fraulichkeit
“ kemmenden Gewährenlassen, diesem unmerklichen Nachgeben, das
eines Tages die große und letzte verderbliche Schwäche ist, sichtbar
* über das Ende der Lektüre hinaus, wie eine Germinie Lacerteux
oder die Namensvetterin Therese Desqueyrvux, Mauriacs düstere
Heldin... Ueberhaupt spürt man selten so wie in diesem neuen
Roman die große, klare und geläuterte französische Romantradition,
in deren Schatten Schnitzlers Schaffen sich vollzieht. Die bürgerlich¬
österreichische Umwelt dringt diesmal nur wenig herein und bleibt
ziemlich neutrale Stafsage. Doch ist Thereses Schicksal nur aus ihr
zu erklären, sowohl aus ihrer sozialen, wie kulturellen Struktur.
Therese erstickt in dieser zugrunde gehenden Welt, die das Opfer
fordert, das sich ihr nicht entziehen konnte. Schnitzler klagt nicht an.
Er ist kein Kämpfer, sondern ein Betrachter. Doch verteilt er nicht
Licht und Schatten, auf daß dem Leser das Rezept der Zufriedenheit
stimme. Er sieht diesmal so hart, profunde, konsequent und real.
daß keiner spöttisch auszurufen wagen wird: „Tant de bruit pour
un coeur humain!“ Mit der „Therese“ hat die Gegenwart den
N. G.
Dichter wieder.