I, Erzählende Schriften 35, Therese. Chronik eines Frauenlebens, Seite 12

Therese
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Freitag, den 18. Mai 1928.

und recht. Zieht oft monatlich, oft wöchentlich von
Haus zu Haus, immer nur zu fremden Menschen,
die für sie meist die ihr gebührende Achtung, nie¬
mals aber auch nur ein wenig Liebe, ein wenig
Wärme übrig haben. Liebe und Wärme, — fremde
Eirus
Begriffe für Theresens Gefühls= und Gedanken¬
schung
welt, nach denen sie sich ahnungsvoll sehnt, denen
hunde
sie aber niemals begegnet. Wohl meldet sich auch
etrust
bei ihr die Stimme des Bluts, der Rausch der
obwol
Sinne, wohl verfällt auch sie bald dem, bald jenem,
windl
er mag Kasimir Tobias oder sonstwie heißen, —
zifferi
auch Franzl, ihr Sohn, das K. jenes Kasimir
In di
Tobias, Maler=Musikers, dem sie in jungen Jahren
findet
begegnet, ist für Therese nicht Natur= und Schick¬
Nische
salswille, nur Zufallsbestimmung.
Urnei
In der Nacht, in der sie ihr Kind gebärt, reißt
der so
eigentlich schon ihr Lebensfaden, erhebt sich dräuend
etrus
das Gespenst der tragischen Schuld, dessen
Hund
Tatzen sie fernerhin rächend umklammert halten.
muß
Da sie in der Geburtsstunde schmerzverzehrt und
große
traumverloren in die „greisenhafte Fratze" ihres
fand
Kindes blickt, wacht der ungehemmte Wunsch nach
völlig
seinem Tode in ihr auf. (Wunschwille.) Franzl, in
durch
bäuerlicher Umgebung aufgewachsen, geht später im
Const
Sumpf der Großstadt unter, wird nacheinander
Unter
Dieb, Zuhälter, Einbrecher und Erpresser an seiner
Hart
eigenen Mutter, schließlich zu ihrem Mörder, so
hat.
ihre Schuld von ehedem mit eigener Hand rächend.
die I
Bewußt? Sind unsere Schicksale, ist unsere Bestim¬
gang
mung gerechter, mächtiger, wissender als wir? Sind
Nähl
wir macht= und willenlos? Therese glaubt es, da sie
Nach
in ihrer Todesstunde die irdischen Richter ihres
suche
Sohnes und Mörders um Gnade bitten läßt, indem
bleib
sie auf den mildernden Umstand hinweist, daß ehr
Zwe
Kind mit „mystischer Tendenz“ nur rächend an ihr
den
gehandelt, weil sie selbst, wenn auch nur im Geisie,
Geb
in seiner Geburtsstunde an ihm unmenschlich ge¬
klein
frevelt, das Samenkorn tödlichen Hasses seinem
war
Blute, seinem jungen Leben eingehaucht. —
Kalk
Schuld? Ein Relativum! Bedeuten nackter
alter
Wunsch und tatenloser Wille zum Bösen an und
naue
für sich schon Schuld? (Theodore Dreiser: „Eine
aus
Auch sonst weist das
amerikanische Tragödie.“)
Nac
Buch in seiner Problematik und in seinem Motiven¬
bese
reichtum viele Aehnlichkeiten mit Monumental¬
in
werken der Neuzeit auf. (Romain Rolland:
rasd
„Mutter und Sohn“, Werfel: „Nicht der Mörder,
nah
der Ermordete ist schuldig.
fürn
In seiner unerquicklichen Düsterkeit aber steht
schick
es allein. Die letzten Szenen: Begegnung Theresens
Zug
mit Kasimir nach 20 Jahren, verdrängte Liebe und
in 2
uneingestandene Freundschaft ihrer Schülerin Thilde
roste
Wohlschein, die kurze Wegstrecke des Lebens, die sie
Oeft
mit ihrem Bräutigam, Thildens Vater, gegangen,
Mei
dessen tragischer Tod in ihr die erste und letzte
glei
Lebensbejahung vernichtet hat, sind die Höhepunkte
stäti
des Werkes, wo Schnitzlers straffe Pinselführung in
lich
die Tiefe geht, für die er die wärmsten Töne seiner
farbenreichen Palette zu mischen weiß.
Auch Theresen zahlt das Leben seinen Sold.
Doch erst im Tode. Für die niemals jemand ein
freundliches, herzliches Wort übrig hatte, dort winkt
jähr
ihr doch wenigstens eine Geste der Trauer: Therese
die
Fabiani war zu dem Zeitpunkt, als die Verhand¬
als
lung stattfand, längst begraben. Doch neben einem
ciety
bescheidenen, dürren, immergrünen Kranz mit der
hati
Aufschrift: „Meiner unglücklichen Schwester' lag ein
das
blühender Frühlingsstrauß, noch unverwelkt, auf
bei
dem Grab; die schönen Blumen waren mit erheb¬
Ger
licher Verspätung aus Holland eingelangt.“
der
So schlicht und versöhnend der Schluß. Ein
wol
echter Schnitzler, diese bildhafte Apotheose, eine
und
sanfte, wehmutsvolle Ironisierung des Lebens, das
für jedes seiner Geschöpfe letzten Endes doch etwas
übrig hat — und wären es auch nur die Blumen
auf dem Grabe, — und dem gegenüber wir eben
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nichts weiter vermögen, als stumm und in Demut
Rudolf Popper.
zu danken.
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Der neue Schnitzler.
Therese. Chronik eines Frauenlebens. S. Fischer
Verlag, Berlin.
Wenn man klassifizieren und ein damit unvermeidliches Quanium
Unrecht begehen will, kann man feststellen, dass Arthur Schnitzlers
neues grosses Romanwerk durchaus ins Gebiet des Naturalismus Zola¬
scher Prägung gehört. Das soll und kann nicht besagen, dass es ein
Epigonenwerk ist. Aber diese schlichte, sachliche, gelegentlich sogar
trockene Darstellung erzwingt geradezu die Erinnerung an den Fran¬
zosen, und sie wird noch verstärkt dadurch, dass auch hier die dichte¬
rischen Hilfen eine unendlich feine P’sychologie, die bis zur Kunst
eines genialen Psychiaters reicht, und die volle Erkenntnis sozialer Not¬
stände bilden.
Therese, Tochter eines höheren Offiziers der alten k. und k. Armee,
der als P’aralytiker endet, und einer moralisch nicht eben unverdäch¬
tigen Mutter, die in der Ruhe des Alters dann gangbare Zeitungs¬
romane schreibt, sucht und findet ihre Unabhängigkeit als Gouvernante,
als „Fräulein“. Von Haus zu Haus kommt sie, und, manchmal da¬
durch, öfter unabhängig davon, von Liebhaber zu Liebhaber. Der
übelste unter ihnen wird der Vater ihres Kindes. Und wie sie dem
Sohn bei der Geburt den Ted wünscht, wird er, Urbild der moral
insanity, schliesslich ihr Mörder, als sie unaufhörlichen Geldforderungen
gegenüber einmal nicht nachkommt. Diese mystische Vergeltung ist
der einzige nicht naturalistische Zug des Romans — und wird, viel¬
leicht seiner Mystik wegen, sein schwächster, so glaubhaft er auch an
sich gemacht wird.
Therese selbst lebt ihr Leben durchaus als brave Frau mit an¬
spruchlosestem Heldentum, trägt ihr Schicksal, ohne allzu sehr, ja
ohne auch nur in annähernd berechtigtem Umfang mit ihm zu hadern.
Es spielt ihr böse genug mit: Sorgen und Kummer um den Sohn, alt
die grossen und kleinen Kränkungen in ihrem Beruf, dieses immer
wieder Entwurzeltwerden, immer wieder Enttäuschungen in ihrem per¬
sönlichsten Erleben, plötzlicher Tod eines Mannes, der ihr sicher ein
guter Ehekamerad geworden wäre, wenige Tage vor der Hochzeit. An
diese Episode knüpft sich die dichterisch reizvollste Arabeske, hauch¬
fein und zart über jede Wiedergabe: die Freundschaft mit der Tochter
dieses Manncs.
In solchen Rahmen konnte Schnitzler ein grosses Kultur- und Un¬
kulturgemälde spannen, einen Querschnitt durch das ganze evropäische
Bürgertum der Vorkriegszeit — denn es findet sich kaum ein spezifisch
österreichischer Zug. Diese Gross- und Kleinbürger, mehr oder weniger
gehobener Mittelstand, materiell und geistig, ihre Männer, Frauen und
Kinder, durch deren Häuser Theresens Weg führt, diese Kavallere,
echte und andere, in deren Arme sic sich sinken lässt, entstammen den
Bezirken des Allgemein-Menschlichen, sind nach unbestechlicher Beob¬
achtung in jedem typischen und jedem individuellen Zug mit äusserster
Plastik gesehen und gezeichnet, Man kann ruhig sagen: mit höchster
Liebe, sc spürbar die stets unformuliert bleibende Kritik auch ist.
Aber auch das ist Ja wohl ein Kennzeichen des Naturalismus, dass er
das Leben inbrünstig liebt in allen seinen Farbtönen, den hellen und
den dunklen. Doch da überschreiten wir schon die Grenzen zu¬
lässigen Klassifizierens. Denn solche Liebe zum Leben, solche voll¬
endete Wiedergabe seiner Regungen ist schliesslich Kennzeichen jedes
echten Künstiertums-und nur des wahrhaft starken Könnens. E.-H. E.