Therese
box 6/2
35. J n. 22.—
AnrnUn SCHNTZLER: „THERESE‘
ENET
In dieser „Chronik eines Frauenlebens (bei freiten, nun doch zu dichterisch. Diese Messer¬
S. Fischer, Berlin) steigt Schnitzler, der gestem-Pspitze von waltender Strafe, diese zwangvolle
pelte Darsteller österreichischer Aristokratie und l Auswirkung eines in höchster Not keimenden
des Leutnants der Vorkriegszeit, in die bürger-Mord-Gedankens ist in einem Buche, das reiner
Bericht sein will, nicht am Platze. „Jeder hat
liche Ebene. Er gibt Bericht, einen ganz ein¬
eine Mord-Ecke in seinem Gehirn“, hat kürzlich
fachen Bericht, über das Leben einer Gouver¬
ein Gelehrter gesagt. Millionen kommen behag¬
nante und Lehrerin. Man könnte ihn die Ge¬
lich durch ihren Tag, von der Mord-Ecke un¬
22
schichte einer Niete nennen oder einen Schlecht¬
behelligt. Warum muß gerade die arme Therese
weggekommenen oder das Dasein einer Ano¬
ihre Wunsch-Vision so schwer bezahlen?
nymen oder Bilder aus dem Durchschnitt.
Diese Therese. ungeschmeicheit und ganz un¬
Man lese das Buch, ohne sich um die meta¬
pathetisch geschildert, ohne besondere Kenn¬
phiysischen Verknüpfungen groß zu kümmern. —
zeichen, nicht schön, nicht klug, nicht tempera¬
Seine gewollte Schmucklosigkeit (es ist erstaun¬ —
mentvoll, eine aus Hunderttausenden, die uns
lich, wie oft der Vortrag bei dem sonst so ge¬
täglich über den Wegagehen, spult in diesen
pflegten Schnitzler banal und alltäglich klingt)
400 Seiten ein armseliges Leben ab, hoffend,
wird stärker ergreifen, als schillernder Aufbau
verstrickt, schicksal-umfangen, von Trieben ge¬
und jähe Dramatik es vermöchten. Strecken¬
20
stachelt, von Verzicht umblaßt, vom Hunger ge¬
weise ist es trostlos nüchtern, ermüdend, dünn,
führt, von Sehnsüchten durchzirkt. Nun liegt
es sickert langsam vorwärts, selten nur finden
sie auf dem Friedhof, eine Namenlose, und in
sich die Schnitzler so geläufigen aphoristischen S
zwanzig Jahren wird eine andere Namenlose die
Prägungen und jene flimmernden Stimmungen
stille Kammer beziehen.
des Zwielichts, in denen er Meister ist. Das öde
Einerlei einer dienenden Existenz wird einem
Ich weiß, wo der Dichter hinauswill. Schnitz¬
nicht geschenkt. Es gilt, Therese zwanzig- oder
ler hat uns in seinen Büchern soviel Skepsis
dreißigmal auf der Suche nach Stellung zu be¬
und Pessimismus ins Blut geträufelt, daß diese
gleiten, die graue Misere des Erwerbens zieht 4.
einfache Chronik, von keiner Tendenz getragen,
durch die Chronik, eigentlich passiert nichts
nicht mißverstanden werden kann. Zwischen den
Außergewöhnliches, auf ieder Seite klopft der
Zeilen, zwischen diesen einfachen Feststellungen,
5
Alltag an. Ein Zug von Gestalten treibt vorbei,
an jeder Wege-Markierung von Theresens
„gehen vorüber“, wie es im Theater bei kurzen
Lebensfahrt, stehen die Fragen: Wozu das alles?
Episoden heißt, aus Häusern, in denen Therese
Welchen Sinn hat das Dasein? Welche irdische
dient, von Kolleginnen in gleicher Lage, von Be¬
Macht, welche überirdische Macht erzeugt
kanntschaften, die sie macht, von Männern,
diese Fürchterlichkeiten? Warum ist Therese,
denen sie sich gibt, Schülerinnen gleiten durch,
die nicht besser und nicht schlechter ist als alle
der verrückte Vater ist da, die schreibwütige
anderen, verurteilt, immer wieder unter die
Mutter, der streberische Bruder, ein Freund und
Räder zu kommen? Was vielen gelingt, warum
wieder Männer, Familien, verklafft oder gesam¬
ihr nicht? Welche geheimnisvollen Kräfte welche
melt Brotherren, Hochstapelnde, Leutnants.
Zufälle haben ihre Hand im Spiel? Wie weit
welch ein Gemisch, kurz und sicher skizziert mit
geht Theresens Verantwortung und wo beginnt
Schnitzlerschem Stift. Zu sehen ist, wie Men¬
die ihrer Mitmenschen, der. Gesellschaft? Folgt
schen sich von einander entfernen, grauenhaft, 8
dieses Mädchen einem unbeimlichen Gesetz,
wie die Familie Theresens auseinandergeblasen
nach dem sie angetreten? Warum erreicht sie
wird bis zur äußersten Fremdheit, wie sie sich
keinen Hafen? Ach, mit dem Hafen wäre es
kennenlernen, lieben, untertauchen und ver¬
8
nicht getan. Das Buch zeigt eine Menge von
schwinden. Hält man ime, so ergibt sich der
Menschen, die im Haten Gestrandete sind.
—
Blick auf eine Großst dt-Straße mit ihrem un¬
In allen Stuben klirren die Ketten. Ueberall ge¬
dern Einanderstreifen
ablässigen Gewühl 1
spenstert der Irrsinn des Seins.
oder einer Trambahnfahrt mit unzähligen Halte¬
Nun freilich: Schnitzler belastet das Kinder¬
stellen, mit dem Auf und Ab von Gesichtern,
fräulein mit einer Schuld, die den roten Faden
die sich wieder verstreuen.
abzugeben hat. Therese hat von einem nichts¬
Mittelpunkt dieser Begegnungen bleibt immer
nutzigen Kerl ein Kind empfangen. In der Stunde
Therese, die Stellung- und Glücksucherin, die
der Geburt wünscht sie dem Kinde den Tod,
vor unsern Augen altert und verbraucht wird.
in halber Bewußtlosigkeit glaubt sie es erwürgt
Schnitzler hat sie, noch einmal sei es betont, f#r
zu haben. Dieses Kind wird ihr zum Fluch. Sie
nicht geputzt: Durchschnittl scheint er zu sagen,
tut es aufs Land. Sie liebt es und es ist ihr
er wirbt nicht für sie, ohne besondere Anlagen
unbequem. Sie tastet nach seinem Herzen und
ist sie mittelmäßig, eine wie tausend, ist „in
fühlt es als Hemmung. Mit feinster Kunst ist
Stellung“ denkt mitunter nach, warum andere es
das An- und Abfluten der Gefühle dargestellt,
besser haben, weiß nicht, daß ein Mißverhältnis
die Anziehung des Mütterlichen und das Grauen
in der Zahl der Forellen und Heringe, der Zobel- —
vor dem Fremdling, dessen Vater Therese kaum
pelze und Kaninchenfelle, der Rosen und Gänse¬
kennf. Der Junge ist entartet, er wird ein Tu¬
blümchen besteht, sie macht einen Vorstoß hoch¬
nichtgut, Stromer, Verbrecher. Als Mahner und
zukommen, probiert berum, hier eine Torheit, dor 4
Forderer erscheint er von Zeit zu Zeit vor der
eine, hier ein Anspruch gewölbter Lippen und e
Türe der Lehrerin, höhnt und beschimpft sie,
reifen Schoßes nach Erregung und einem An¬
erpreßt Geld. Er darf es wagen, denn die Mutter
teil Lust, dert einer, Rückfall, zages Tasten nach
ist ja „so eine“. Zum Schluß ein Mordversuch.
dem Warum, Warum? Ein Dummerchen, durch-
Daran stirbt sie.
aus zu begreifen, eine in der Herde. Ihr Schick¬
Ein Sonderfall? Vielleicht. Es gibt uneheliche
sal, ohne Tragik und Größe, ist das von Unge¬
Kinder, die prächtig gedeihen und ordentliche
zählten, die unsere Erde konsumiert, eines derer,
Menschen werden. Aber jeder Leser wird als
die vom Essen nicht und in ihrer Seeie nicht 4—
möglich und wahr unterstellen, was Schnitzler
gesättigt werden und die man eines Tages be¬
von Therese und Franz erzählt. Gut. Nur:
gräbt, ohne daß sie erfahren hätten, wozu sie“4
Schnitzler hätte den Bericht dieses Lebens
eigentlich auf der Welt waren.
Se Anee
schließen können, ohne sich seiner dichterischen
Sendung zu erinnern. Er konstruiert eine poe¬
tische Gerechtigkeit: Therese stirbt verklärt und
sieht in ihrem Tode die Sühne für den gewollten
Mord an ihrem Kinde. Der Dichter zieht einen
Kreis ven jener Nacht zu dieser. Es mag sein,
daß manche Leser diesen „gerechten“, Schluß
tiefatmend billigen. Mir scheint er, trotz aller
psychologischen Begründungen, die ihn vorbe¬
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AnrnUn SCHNTZLER: „THERESE‘
ENET
In dieser „Chronik eines Frauenlebens (bei freiten, nun doch zu dichterisch. Diese Messer¬
S. Fischer, Berlin) steigt Schnitzler, der gestem-Pspitze von waltender Strafe, diese zwangvolle
pelte Darsteller österreichischer Aristokratie und l Auswirkung eines in höchster Not keimenden
des Leutnants der Vorkriegszeit, in die bürger-Mord-Gedankens ist in einem Buche, das reiner
Bericht sein will, nicht am Platze. „Jeder hat
liche Ebene. Er gibt Bericht, einen ganz ein¬
eine Mord-Ecke in seinem Gehirn“, hat kürzlich
fachen Bericht, über das Leben einer Gouver¬
ein Gelehrter gesagt. Millionen kommen behag¬
nante und Lehrerin. Man könnte ihn die Ge¬
lich durch ihren Tag, von der Mord-Ecke un¬
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schichte einer Niete nennen oder einen Schlecht¬
behelligt. Warum muß gerade die arme Therese
weggekommenen oder das Dasein einer Ano¬
ihre Wunsch-Vision so schwer bezahlen?
nymen oder Bilder aus dem Durchschnitt.
Diese Therese. ungeschmeicheit und ganz un¬
Man lese das Buch, ohne sich um die meta¬
pathetisch geschildert, ohne besondere Kenn¬
phiysischen Verknüpfungen groß zu kümmern. —
zeichen, nicht schön, nicht klug, nicht tempera¬
Seine gewollte Schmucklosigkeit (es ist erstaun¬ —
mentvoll, eine aus Hunderttausenden, die uns
lich, wie oft der Vortrag bei dem sonst so ge¬
täglich über den Wegagehen, spult in diesen
pflegten Schnitzler banal und alltäglich klingt)
400 Seiten ein armseliges Leben ab, hoffend,
wird stärker ergreifen, als schillernder Aufbau
verstrickt, schicksal-umfangen, von Trieben ge¬
und jähe Dramatik es vermöchten. Strecken¬
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stachelt, von Verzicht umblaßt, vom Hunger ge¬
weise ist es trostlos nüchtern, ermüdend, dünn,
führt, von Sehnsüchten durchzirkt. Nun liegt
es sickert langsam vorwärts, selten nur finden
sie auf dem Friedhof, eine Namenlose, und in
sich die Schnitzler so geläufigen aphoristischen S
zwanzig Jahren wird eine andere Namenlose die
Prägungen und jene flimmernden Stimmungen
stille Kammer beziehen.
des Zwielichts, in denen er Meister ist. Das öde
Einerlei einer dienenden Existenz wird einem
Ich weiß, wo der Dichter hinauswill. Schnitz¬
nicht geschenkt. Es gilt, Therese zwanzig- oder
ler hat uns in seinen Büchern soviel Skepsis
dreißigmal auf der Suche nach Stellung zu be¬
und Pessimismus ins Blut geträufelt, daß diese
gleiten, die graue Misere des Erwerbens zieht 4.
einfache Chronik, von keiner Tendenz getragen,
durch die Chronik, eigentlich passiert nichts
nicht mißverstanden werden kann. Zwischen den
Außergewöhnliches, auf ieder Seite klopft der
Zeilen, zwischen diesen einfachen Feststellungen,
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Alltag an. Ein Zug von Gestalten treibt vorbei,
an jeder Wege-Markierung von Theresens
„gehen vorüber“, wie es im Theater bei kurzen
Lebensfahrt, stehen die Fragen: Wozu das alles?
Episoden heißt, aus Häusern, in denen Therese
Welchen Sinn hat das Dasein? Welche irdische
dient, von Kolleginnen in gleicher Lage, von Be¬
Macht, welche überirdische Macht erzeugt
kanntschaften, die sie macht, von Männern,
diese Fürchterlichkeiten? Warum ist Therese,
denen sie sich gibt, Schülerinnen gleiten durch,
die nicht besser und nicht schlechter ist als alle
der verrückte Vater ist da, die schreibwütige
anderen, verurteilt, immer wieder unter die
Mutter, der streberische Bruder, ein Freund und
Räder zu kommen? Was vielen gelingt, warum
wieder Männer, Familien, verklafft oder gesam¬
ihr nicht? Welche geheimnisvollen Kräfte welche
melt Brotherren, Hochstapelnde, Leutnants.
Zufälle haben ihre Hand im Spiel? Wie weit
welch ein Gemisch, kurz und sicher skizziert mit
geht Theresens Verantwortung und wo beginnt
Schnitzlerschem Stift. Zu sehen ist, wie Men¬
die ihrer Mitmenschen, der. Gesellschaft? Folgt
schen sich von einander entfernen, grauenhaft, 8
dieses Mädchen einem unbeimlichen Gesetz,
wie die Familie Theresens auseinandergeblasen
nach dem sie angetreten? Warum erreicht sie
wird bis zur äußersten Fremdheit, wie sie sich
keinen Hafen? Ach, mit dem Hafen wäre es
kennenlernen, lieben, untertauchen und ver¬
8
nicht getan. Das Buch zeigt eine Menge von
schwinden. Hält man ime, so ergibt sich der
Menschen, die im Haten Gestrandete sind.
—
Blick auf eine Großst dt-Straße mit ihrem un¬
In allen Stuben klirren die Ketten. Ueberall ge¬
dern Einanderstreifen
ablässigen Gewühl 1
spenstert der Irrsinn des Seins.
oder einer Trambahnfahrt mit unzähligen Halte¬
Nun freilich: Schnitzler belastet das Kinder¬
stellen, mit dem Auf und Ab von Gesichtern,
fräulein mit einer Schuld, die den roten Faden
die sich wieder verstreuen.
abzugeben hat. Therese hat von einem nichts¬
Mittelpunkt dieser Begegnungen bleibt immer
nutzigen Kerl ein Kind empfangen. In der Stunde
Therese, die Stellung- und Glücksucherin, die
der Geburt wünscht sie dem Kinde den Tod,
vor unsern Augen altert und verbraucht wird.
in halber Bewußtlosigkeit glaubt sie es erwürgt
Schnitzler hat sie, noch einmal sei es betont, f#r
zu haben. Dieses Kind wird ihr zum Fluch. Sie
nicht geputzt: Durchschnittl scheint er zu sagen,
tut es aufs Land. Sie liebt es und es ist ihr
er wirbt nicht für sie, ohne besondere Anlagen
unbequem. Sie tastet nach seinem Herzen und
ist sie mittelmäßig, eine wie tausend, ist „in
fühlt es als Hemmung. Mit feinster Kunst ist
Stellung“ denkt mitunter nach, warum andere es
das An- und Abfluten der Gefühle dargestellt,
besser haben, weiß nicht, daß ein Mißverhältnis
die Anziehung des Mütterlichen und das Grauen
in der Zahl der Forellen und Heringe, der Zobel- —
vor dem Fremdling, dessen Vater Therese kaum
pelze und Kaninchenfelle, der Rosen und Gänse¬
kennf. Der Junge ist entartet, er wird ein Tu¬
blümchen besteht, sie macht einen Vorstoß hoch¬
nichtgut, Stromer, Verbrecher. Als Mahner und
zukommen, probiert berum, hier eine Torheit, dor 4
Forderer erscheint er von Zeit zu Zeit vor der
eine, hier ein Anspruch gewölbter Lippen und e
Türe der Lehrerin, höhnt und beschimpft sie,
reifen Schoßes nach Erregung und einem An¬
erpreßt Geld. Er darf es wagen, denn die Mutter
teil Lust, dert einer, Rückfall, zages Tasten nach
ist ja „so eine“. Zum Schluß ein Mordversuch.
dem Warum, Warum? Ein Dummerchen, durch-
Daran stirbt sie.
aus zu begreifen, eine in der Herde. Ihr Schick¬
Ein Sonderfall? Vielleicht. Es gibt uneheliche
sal, ohne Tragik und Größe, ist das von Unge¬
Kinder, die prächtig gedeihen und ordentliche
zählten, die unsere Erde konsumiert, eines derer,
Menschen werden. Aber jeder Leser wird als
die vom Essen nicht und in ihrer Seeie nicht 4—
möglich und wahr unterstellen, was Schnitzler
gesättigt werden und die man eines Tages be¬
von Therese und Franz erzählt. Gut. Nur:
gräbt, ohne daß sie erfahren hätten, wozu sie“4
Schnitzler hätte den Bericht dieses Lebens
eigentlich auf der Welt waren.
Se Anee
schließen können, ohne sich seiner dichterischen
Sendung zu erinnern. Er konstruiert eine poe¬
tische Gerechtigkeit: Therese stirbt verklärt und
sieht in ihrem Tode die Sühne für den gewollten
Mord an ihrem Kinde. Der Dichter zieht einen
Kreis ven jener Nacht zu dieser. Es mag sein,
daß manche Leser diesen „gerechten“, Schluß
tiefatmend billigen. Mir scheint er, trotz aller
psychologischen Begründungen, die ihn vorbe¬