Therese
36. B
box 6/2
Wonag,
Snene e ne ennnen
en bentenane
Wtrat du Journat:
Kölnische Dolkszeitung, Köln
1. Mlorgenausgabe
Ausschrilt aus der Nummer v9n9. MAl 1929
„Seinen neuen Roman, Therese, bezeichnet Arthur Schnitzler
als „Chronik eines Frauenlebens“. Wer Schhitzler aus Spich
frühern Werken genauer kennt, wird sehr überrascht seih: er
ist hier nicht der schmeichlerisch-virtuose Causeur, weigzu
ein wenig weltschmerzlich (Anatol), nicht der ruffinierte“Töch¬
niker, der es liebt, geistreiche Aphorismen in sich steigernde
Prosadialoge zu streuen (Der grüne Kakadu), er ist nicht humor¬
voll und nicht sentimental, ist also ganz unwienerisch. Der
Roman ist die Geschichte eines armseligen Gouvernantenlebens,
einförmig grau in grau, der Ablauf eines Dutzenddaseins, in
einem nüchternen Realismus erzählt, eigentlich auch undichterisch,
in vielem banal und ganz hoffnungslos in den seelischen Per¬
spektiven der Heldin. Therese ist die Tochter eines höhern
Offiziers, die sich aus dem innern und äußern Verfall ihrer
Familie — der Vater endet im Irrenhaus, die zerfahrene Mutter
schreiht minderwertige Familienblattromane, der Bruder ist ein
kalter politischer Streber — durch selbständige Tätigkeit zu retten
sucht, aber im Alltag verstrickt, von Sehnsüchten dann und
wann verführt, ohne wirklichen An- und Auftrieb im Alltags¬
leben verhaftet bleibt. Ihr eigentliches Schicksal wird durch ein
uneheliches Kind bestimmt, das, von einem verlumpten und nur
halb gekannten Vater gezeugt, sich als moralisch minderwertig
entwickelt und schließlich zum Verbrecher herabsinkt, dem sie
Belbst — bei einem Raubversuch des Jungen — zum Opfer fällt.
Gegen den Schluß hin, kurz vor ihrem traurigen Ende, liegen
ein paar lichtere Sonnenflecke, ihr Wunsch, den verkommenen
Sohn vor der Anklage des Muttermordes zu bewahren durch die
moralische Selbstbezichtigung, daß sie in der Stunde der Geburt
den Tod des Knaben gewünscht, auch einige Stunden geglaubt
habe, sie habe das Kind erwürgt — ein nutzloser Versuch vor
der Justiz, aber auch ein etwas aufgeklehter Versuch des Dich¬
ters, einen tiefern Sinn in dies sinnlose Leben zu senken und
über die irdische eine höhere, eine dichterische Gerechtigkeit zu
setzen. Mit welcher Meisterschaft aber ist diese „Chronik“ eines
im Grunde uninteressanten, farblosen, gleichgültigen, sich aus
der Masse durch nichts hervorhebenden Frauenlebens gestaltet!
Tausend Einzelzüge, zum unauffälligsten Mosaik aneinander¬
gefügt, geben dennoch ein Bild von einer staunenswerten Ein¬
dringlichkeit über alle Schichten und Klassen der menschlichen
Gesellschaft, über die unglaubliche Trostlosigkeit unzähliger
Ehen, über Verderbnisse oben und unten, über den Glücks¬
hunger nach der Minute abgestohlenen Freuden, über Elend des
Herzens und die Sinnlosigkeit vertropfender Tage und Jahre.
Wenige Striche genügen oft, einprägsam ein Gesicht, das Gesicht
einer Familie, das Gesicht einer Fülle von Menschen in Fron und
Alltagsbanalität und Schicksalsverdammnis zu zeichnen.
Wenn also im Grunde nicht viel „geschicht“, die Handlung wie
eine leicht gekräuselte Wellendecke ist mit dem leisen grauen
Geflimmer träg fließender Gewässer, sc weiß Schnitzler — seine
Hauptstärke — dafür im Psychologischen seine ganze reife
Kunst zu entfalten, geheimnisvolle Regungen der Seele bloßzu¬
legen und Empfindungen „im Zwielicht“ mit halben Worten
anzudeuten. Gerade die Stimmungen, die sich aus dem Gefühl
der Mütterlichkeit der stillen Heldin ergeben: die aufquellenden
der Zusammengehörigkeit mit dem Kinde, die abwehrenden
gegen das Fremde in ihm, das bedrückende Schuldgefühl in ihr
und wieder das Gefühl der aufbegehrenden Verachtung gegen
den Mißratenen, angeborene Güte und Mitleid und der dagegen
anstrebende Widerwille der überkommenen bürgerlichen Sauber¬
keit, all diese Stimmungen sind mit ungemein feinem Verständ¬
nis auseinandergesetzt, Kommt man nicht auf den Gedanken, I
daß eigentlich jedes Leben, mag es noch so armselig sein, ein
Roman ist? Aber mehr noch, daß Tausende wie Therese nicht
wissen, welchen Sinn es hatte, daß sie geboren wurden, um ein
solches Leben überhaupt zu leben? Daß das scelische Sterben
in Jahren schlimmer ist als der leibliche Tod? Und daß alle
Frage um den Sinn eines solchen Lebens ohne Antwort bleibt?
Auch Schnitzler gibt sie nicht (aus künstlerischen Gründen, er
will nur berichten), will sie nicht geben, weil er es im Grunde
nicht vermag, Jede Antwort bleibt Stückwerk.
36. B
box 6/2
Wonag,
Snene e ne ennnen
en bentenane
Wtrat du Journat:
Kölnische Dolkszeitung, Köln
1. Mlorgenausgabe
Ausschrilt aus der Nummer v9n9. MAl 1929
„Seinen neuen Roman, Therese, bezeichnet Arthur Schnitzler
als „Chronik eines Frauenlebens“. Wer Schhitzler aus Spich
frühern Werken genauer kennt, wird sehr überrascht seih: er
ist hier nicht der schmeichlerisch-virtuose Causeur, weigzu
ein wenig weltschmerzlich (Anatol), nicht der ruffinierte“Töch¬
niker, der es liebt, geistreiche Aphorismen in sich steigernde
Prosadialoge zu streuen (Der grüne Kakadu), er ist nicht humor¬
voll und nicht sentimental, ist also ganz unwienerisch. Der
Roman ist die Geschichte eines armseligen Gouvernantenlebens,
einförmig grau in grau, der Ablauf eines Dutzenddaseins, in
einem nüchternen Realismus erzählt, eigentlich auch undichterisch,
in vielem banal und ganz hoffnungslos in den seelischen Per¬
spektiven der Heldin. Therese ist die Tochter eines höhern
Offiziers, die sich aus dem innern und äußern Verfall ihrer
Familie — der Vater endet im Irrenhaus, die zerfahrene Mutter
schreiht minderwertige Familienblattromane, der Bruder ist ein
kalter politischer Streber — durch selbständige Tätigkeit zu retten
sucht, aber im Alltag verstrickt, von Sehnsüchten dann und
wann verführt, ohne wirklichen An- und Auftrieb im Alltags¬
leben verhaftet bleibt. Ihr eigentliches Schicksal wird durch ein
uneheliches Kind bestimmt, das, von einem verlumpten und nur
halb gekannten Vater gezeugt, sich als moralisch minderwertig
entwickelt und schließlich zum Verbrecher herabsinkt, dem sie
Belbst — bei einem Raubversuch des Jungen — zum Opfer fällt.
Gegen den Schluß hin, kurz vor ihrem traurigen Ende, liegen
ein paar lichtere Sonnenflecke, ihr Wunsch, den verkommenen
Sohn vor der Anklage des Muttermordes zu bewahren durch die
moralische Selbstbezichtigung, daß sie in der Stunde der Geburt
den Tod des Knaben gewünscht, auch einige Stunden geglaubt
habe, sie habe das Kind erwürgt — ein nutzloser Versuch vor
der Justiz, aber auch ein etwas aufgeklehter Versuch des Dich¬
ters, einen tiefern Sinn in dies sinnlose Leben zu senken und
über die irdische eine höhere, eine dichterische Gerechtigkeit zu
setzen. Mit welcher Meisterschaft aber ist diese „Chronik“ eines
im Grunde uninteressanten, farblosen, gleichgültigen, sich aus
der Masse durch nichts hervorhebenden Frauenlebens gestaltet!
Tausend Einzelzüge, zum unauffälligsten Mosaik aneinander¬
gefügt, geben dennoch ein Bild von einer staunenswerten Ein¬
dringlichkeit über alle Schichten und Klassen der menschlichen
Gesellschaft, über die unglaubliche Trostlosigkeit unzähliger
Ehen, über Verderbnisse oben und unten, über den Glücks¬
hunger nach der Minute abgestohlenen Freuden, über Elend des
Herzens und die Sinnlosigkeit vertropfender Tage und Jahre.
Wenige Striche genügen oft, einprägsam ein Gesicht, das Gesicht
einer Familie, das Gesicht einer Fülle von Menschen in Fron und
Alltagsbanalität und Schicksalsverdammnis zu zeichnen.
Wenn also im Grunde nicht viel „geschicht“, die Handlung wie
eine leicht gekräuselte Wellendecke ist mit dem leisen grauen
Geflimmer träg fließender Gewässer, sc weiß Schnitzler — seine
Hauptstärke — dafür im Psychologischen seine ganze reife
Kunst zu entfalten, geheimnisvolle Regungen der Seele bloßzu¬
legen und Empfindungen „im Zwielicht“ mit halben Worten
anzudeuten. Gerade die Stimmungen, die sich aus dem Gefühl
der Mütterlichkeit der stillen Heldin ergeben: die aufquellenden
der Zusammengehörigkeit mit dem Kinde, die abwehrenden
gegen das Fremde in ihm, das bedrückende Schuldgefühl in ihr
und wieder das Gefühl der aufbegehrenden Verachtung gegen
den Mißratenen, angeborene Güte und Mitleid und der dagegen
anstrebende Widerwille der überkommenen bürgerlichen Sauber¬
keit, all diese Stimmungen sind mit ungemein feinem Verständ¬
nis auseinandergesetzt, Kommt man nicht auf den Gedanken, I
daß eigentlich jedes Leben, mag es noch so armselig sein, ein
Roman ist? Aber mehr noch, daß Tausende wie Therese nicht
wissen, welchen Sinn es hatte, daß sie geboren wurden, um ein
solches Leben überhaupt zu leben? Daß das scelische Sterben
in Jahren schlimmer ist als der leibliche Tod? Und daß alle
Frage um den Sinn eines solchen Lebens ohne Antwort bleibt?
Auch Schnitzler gibt sie nicht (aus künstlerischen Gründen, er
will nur berichten), will sie nicht geben, weil er es im Grunde
nicht vermag, Jede Antwort bleibt Stückwerk.