35. Therese
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Neue Bücher
staltlose von Theresens Leben. Daß alles Ge¬
Arthur Schnitzler: Therese.
wordene sich sogleich wieder auflöst, alles Wer¬
S. Fischer Verlag.
dende schon den Keim seines Endes in sich
trägt, sei es eine Konfiguration, ein Gefühl,
Die letzten erzählenden Bücher von Ar¬
eine große oder kleine Absicht. Als sie ihren
thur Schnitzler waren Novellen: aus
Sohn zur Welt bringt, hat sie, die im Stich
einem Lebenszusammenhang, der ja auch
Gelassene, einen Augenblick lang den Wunsch,
immer ein Zusammenhang kontinuierlicher
das Kind wäre tot. Im Ausgang des Romans
Zeit ist, wird der eine, der kritische Augenblick
wird eben dieser Sohn zum Mörder an der
herausgegriffen und in raschem Gefäll seinem
eigenen Mutter. Zwischen diesen beiden Fak¬
Ende zugeführt. Nun schreibt Schnitzler diesen
#ten schlägt Schnitzler eine Brücke, es klingt nach
großen Roman: „Therese, Chronik eines
Schuld und Sühne. Das aber ist nun Theo¬
Frauenlebens“ und da drängt sich dem Leser
logie angewandt auf eine Welt, deren tiefstes
zuerst die ihm bei diesem Dichter ungewohnte
Merkmal bis dahin ihre Entgötterung war.
Behandlung des Zeitablaufs auf. Nicht wie
Der Vortrag in „Therese“ ist konsequent
zumeist in Romanen wird er in zusammenge¬
und unerbittlich (bis auf den Schluß, der auf
hörige Bündel oder durch Hervorhebung der
Deutung beruht). Sein Ernst aber ist nicht
wichtigsten oder interessantesten Situationen in
„Sachlichkeit“, er entstammt einer Tiefe des
Teile zerlegt; nirgends wird Zeit aus der Ver¬
Verstummens, das vor allen Wechselfällen des
gangenheit aufgeholt, auch nirgends hereinbre¬
menschlichen Leidens zu beharren entschlossen
chende Zukunft vorweg in Anspruch genom¬
ist. In viele Bezirke des Lebens führt uns
men, er ist völlig fließende Gegenwart, und so
der Roman, gesicherte und ungesicherte,
kommt es, daß, da der Roman sich inhaltlich
leuchtet in das Dunkel der Häuser, der Herzen,
über Jahrzehnte erstreckt, diese nun auch wirk¬
der verborgenen Regungen. Unter den Spät¬
lich und in einem wörtlichen Sinne in ihm ent¬
werken Schnitzlers gebührt ihm ein hoher
halten sind. Denn je geringer der Versuch,
Rang.
Leo Greiner.
einen Zeitablauf zu gliedern, desto zeiterfüllter
tritt er hervor, und ein Jahrzehnt kann, si##
man es in der Rückschau, sieht man es in
Wahrheit als Zeit, wie etwas ganz Fremdes,
Fernes erscheinen, das langher aus einem un¬
bekannten Quell geflossen ist. Schnitzler reiht
seinen großen Roman in kurzen, gleichwertig
hintereinandergesetzten Kapiteln auf: Das
dem wartenden Sinn Wichtige und das min¬
der Wichtige wird nicht unterschieden, es wiegt
gleich schwer vor der finstern Ananke, der Zeit.
Sein Wert oder Unwert ist, daß es sich zuträgt,
es hat keine andre Bestimmung als diese und
so, an jedem Lunkte, den Charakter des Not¬
wendigen.
Das heißt, an jedem Punkte doch nicht;
denn wenn in den ersten drei Vierteln des
Romans dieses Hintereinander, unbekümmert
um Urteil und Interpreiation, durchgeführt
wird, im letzten Viertel meldet sich dann der
Drang, dem reinen Schicksalsablauf nun doch
einen andern, einen Sinn vom Menschen her
unterzulegen; damit verliert der Roman an
chronikhafter Weite der Strömung, wird statio¬
närer und novellistischer und sucht nun nach
Verknüpfung und bewußtem Austrag.
„Therese“ ist die Geschichte einer Frau un¬
ter vielen. Sie wird „Heldin“, nicht weil sie
sondern weil das Leben nicht anders ist und
nur ein wirres Konglomerat von Unbeständig¬
keiten und Halbheiten, nur herauftanchente.
Inseln, die von der Strömung, wenn nicht
heute, so morgen wieder verschwemmt werden.
Alles darin ist nur Ansatz, überholt, bevor es
sich entwickeln kann, weder Versprechungen
noch Leidenschaften halten stand, immer sind
sie dem Nichts so nahe wie dem Etwas
und verschwinden in der verrinnenden
Flut. Tochter eines österreichischen Oberst¬
leutnants, der Vater in Wahnsinn, die Mutter
abseitig, schrullenhaft und gefährlich, der Bru¬
der fremd auf eigenen Wegen, schlägt Therese
Fabiani sich einsam als Erzieherin durchs
Leben; ohne Heimat, scheint diese ihr in irgend¬
einem der Bürgerhäuser, in die ihr Weg sie
führt, aufzublühen, einige Wochen später ist sie
entlassen; ihre „Gleichberechtigung“ widerstrei¬
tet ihrem Dienertum, jene rächt dieses an ihr
und umgekehrt; ihre Verbindung mit Menschen
ist Zufall, ihre Liebeserlebnisse ein Erliegen im
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Neue Bücher
staltlose von Theresens Leben. Daß alles Ge¬
Arthur Schnitzler: Therese.
wordene sich sogleich wieder auflöst, alles Wer¬
S. Fischer Verlag.
dende schon den Keim seines Endes in sich
trägt, sei es eine Konfiguration, ein Gefühl,
Die letzten erzählenden Bücher von Ar¬
eine große oder kleine Absicht. Als sie ihren
thur Schnitzler waren Novellen: aus
Sohn zur Welt bringt, hat sie, die im Stich
einem Lebenszusammenhang, der ja auch
Gelassene, einen Augenblick lang den Wunsch,
immer ein Zusammenhang kontinuierlicher
das Kind wäre tot. Im Ausgang des Romans
Zeit ist, wird der eine, der kritische Augenblick
wird eben dieser Sohn zum Mörder an der
herausgegriffen und in raschem Gefäll seinem
eigenen Mutter. Zwischen diesen beiden Fak¬
Ende zugeführt. Nun schreibt Schnitzler diesen
#ten schlägt Schnitzler eine Brücke, es klingt nach
großen Roman: „Therese, Chronik eines
Schuld und Sühne. Das aber ist nun Theo¬
Frauenlebens“ und da drängt sich dem Leser
logie angewandt auf eine Welt, deren tiefstes
zuerst die ihm bei diesem Dichter ungewohnte
Merkmal bis dahin ihre Entgötterung war.
Behandlung des Zeitablaufs auf. Nicht wie
Der Vortrag in „Therese“ ist konsequent
zumeist in Romanen wird er in zusammenge¬
und unerbittlich (bis auf den Schluß, der auf
hörige Bündel oder durch Hervorhebung der
Deutung beruht). Sein Ernst aber ist nicht
wichtigsten oder interessantesten Situationen in
„Sachlichkeit“, er entstammt einer Tiefe des
Teile zerlegt; nirgends wird Zeit aus der Ver¬
Verstummens, das vor allen Wechselfällen des
gangenheit aufgeholt, auch nirgends hereinbre¬
menschlichen Leidens zu beharren entschlossen
chende Zukunft vorweg in Anspruch genom¬
ist. In viele Bezirke des Lebens führt uns
men, er ist völlig fließende Gegenwart, und so
der Roman, gesicherte und ungesicherte,
kommt es, daß, da der Roman sich inhaltlich
leuchtet in das Dunkel der Häuser, der Herzen,
über Jahrzehnte erstreckt, diese nun auch wirk¬
der verborgenen Regungen. Unter den Spät¬
lich und in einem wörtlichen Sinne in ihm ent¬
werken Schnitzlers gebührt ihm ein hoher
halten sind. Denn je geringer der Versuch,
Rang.
Leo Greiner.
einen Zeitablauf zu gliedern, desto zeiterfüllter
tritt er hervor, und ein Jahrzehnt kann, si##
man es in der Rückschau, sieht man es in
Wahrheit als Zeit, wie etwas ganz Fremdes,
Fernes erscheinen, das langher aus einem un¬
bekannten Quell geflossen ist. Schnitzler reiht
seinen großen Roman in kurzen, gleichwertig
hintereinandergesetzten Kapiteln auf: Das
dem wartenden Sinn Wichtige und das min¬
der Wichtige wird nicht unterschieden, es wiegt
gleich schwer vor der finstern Ananke, der Zeit.
Sein Wert oder Unwert ist, daß es sich zuträgt,
es hat keine andre Bestimmung als diese und
so, an jedem Lunkte, den Charakter des Not¬
wendigen.
Das heißt, an jedem Punkte doch nicht;
denn wenn in den ersten drei Vierteln des
Romans dieses Hintereinander, unbekümmert
um Urteil und Interpreiation, durchgeführt
wird, im letzten Viertel meldet sich dann der
Drang, dem reinen Schicksalsablauf nun doch
einen andern, einen Sinn vom Menschen her
unterzulegen; damit verliert der Roman an
chronikhafter Weite der Strömung, wird statio¬
närer und novellistischer und sucht nun nach
Verknüpfung und bewußtem Austrag.
„Therese“ ist die Geschichte einer Frau un¬
ter vielen. Sie wird „Heldin“, nicht weil sie
sondern weil das Leben nicht anders ist und
nur ein wirres Konglomerat von Unbeständig¬
keiten und Halbheiten, nur herauftanchente.
Inseln, die von der Strömung, wenn nicht
heute, so morgen wieder verschwemmt werden.
Alles darin ist nur Ansatz, überholt, bevor es
sich entwickeln kann, weder Versprechungen
noch Leidenschaften halten stand, immer sind
sie dem Nichts so nahe wie dem Etwas
und verschwinden in der verrinnenden
Flut. Tochter eines österreichischen Oberst¬
leutnants, der Vater in Wahnsinn, die Mutter
abseitig, schrullenhaft und gefährlich, der Bru¬
der fremd auf eigenen Wegen, schlägt Therese
Fabiani sich einsam als Erzieherin durchs
Leben; ohne Heimat, scheint diese ihr in irgend¬
einem der Bürgerhäuser, in die ihr Weg sie
führt, aufzublühen, einige Wochen später ist sie
entlassen; ihre „Gleichberechtigung“ widerstrei¬
tet ihrem Dienertum, jene rächt dieses an ihr
und umgekehrt; ihre Verbindung mit Menschen
ist Zufall, ihre Liebeserlebnisse ein Erliegen im