I, Erzählende Schriften 35, Therese. Chronik eines Frauenlebens, Seite 45

Therese
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Arthur Schnitzler Therese
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verstandensein mit ihrem Leben, mit ihrem
Thildes Vater ein Varieté. Im Reigen jäm¬
Schicksal und letzten Endes mit ihrem Tode,
merlich grausiger Menschenmarionetten ge¬
der jach, rot und gräßlich das graue Gouvernan¬
wahrt sie einen mag en Cellisten — es ist Ka¬
tenleben zu Ende bringt.
simir Tobitsch, der Vater ihres ungeratenen
Vollstrecker ist der verkommene Sohn, der
Sohnes, der das gräßlichste, leibhaftigste Ge¬
spenst ihres Lebens bedeutet, der sich mit Dirnen
eines Abends im Mai in die Wohnung dringt
und Zuhältern herumtreibt, oft monatelang
und nach kurzem Wortwechsel sein Erbteil for¬
verschwunden bleibt, nur dann und wann er¬
dert. Therese weigert sich erbittert, Franz stößt
schreckend auftaucht, wenn er Geld, Essen und
sie beiseite, sprengt den Schrank auf, wühlt in
eine Schlafstelle braucht, der schon als Mit¬
den Wäschestücken. Therese ruft um Hilfe. Da
glied einer jugendlichen Diebesbande aufgegrif¬
packt er sie an, knebelt sie, würgt sie, sucht wei¬
fen wurde und gerade einige Wochen Gefängnis
ter nach Geld wie ein Rasender. Die Klingel
verbüßt.
schrillt, Faustschläge dröhnen gegen die Tür,
Nrachbarsleute stürzen herein, Franz wird ge¬
Und sogar die Beziehung zu Wohlschein
faßt, seine Mutter liegt ohnmächtig am Boden.
selbst hat etwas Gespenstisches, Unwirkliches,
Ilan schafft sie ins Cpital; dort wird festge¬
Schlafwandlerisches, weil Theresens Liebesge¬
stellt, ein Kehlkopfknorpel ist gebrochen. An¬
bärde eigentlich nicht ihm gilt, sondern seiner
deren Tags setzt Fieber ein, und das Bewußtsein
Tochter, weil ihre Liebesstunden nur durch die
ist gestört. Alfred erscheint an ihrem Bett. In
Erinnerung an andere Männer flüchtige Lust
seiner Gegenwart, unter dem Druck der einst
erhalten.
geliebten Hand wacht sie noch einmal auf, und
Eines Morgens ist das ganze falsche Glück
ihre letzten Worte sind eine Selbstbeschuldigung
Overweht wie ein Spuck. Therese erwartet
und eine Fürbitte:
ihren Bräutigam, um mit ihm Einkäufe zu
Er ist unschuldig. Er hat mir nur vergolten,
machen. Da meldet das Telephon, Herr 2 Johl¬
was ich ihm getan habe. MMan darf ihn nicht
schein sei über Ndacht gestorben. Herzschlag.
zu hart strafen.
Vorbei die Zeit der Hoffnungen, dahingegan¬
Alfred fühlt, daß ihr nun das Ende, das sie
gen der Bräutigam, der Liebhaber, dem sie so
erlitten hatte oder erleiden sollte, nicht mehr
viel verdankte, Thildes Vater. Und hatte ihr
sinnlos erschien. Nrach ein paar Stunden erlischt
nur tausend Gulden vermacht! Sogar der grä߬
Therese plötzlich, unerwartet.
liche Franz zeigte eine Spur von Mitgefühl:
Das Gericht hat kein Verständnis für die
„Hast auch kein Glück, Mutter!“
mütterliche Fürbitte und verurteilt den Mutter¬
Jrun war sie allein, so völlig allein, wie sie es
mörder Franz zu zwölf Jahren schwerem Ker¬
noch nie gewesen war. Jeder Anspruch auf
ker. Am Tage der Verhandlung ist Therese
Glück erlischt. Ihr Leben ist jetzt abgelaufen,
längst begraben. Auf ihrem Hügel liegt — noch
alles, was sich noch ereignet — das Wiedersehen
unverwelkt — ein blühender Frühlingsstrauß
mit Tobitsch, der spärliche Broterwerb, das
aus Holland.
Auf und Ab der pekuniären Lage — bewegt sie
Arme Therese, das ewige Licht leuchte dir und
kaum. Was ihr an Wirklichkeit noch bleibt,
den Tausenden deiner Schwestern, die ähnliches
ist die Einkehr in die eigene Seele. Die Gnade
Los erduldeten! MKöge eure Zahl sich stetig min¬
dieses Beisichseins erlebt sie nirgends so stark
dern; mögen deine Schwestern von heute, The¬
wie im hohen, weihrauchduftenden Kirchen¬
rese, ebenso reizend und liebenswert wie du in
raume. Dort quillt ihr aus der Lauterkeit und
deiner Blüte, aber unbelasteter, wissender, wehr¬
Sauftmut der eigenen Seele Trost und Be¬
hafter, instinkt= und lebenssicherer ihr mühevolles
ruhigung, aber auch das Wissen um schwere,
Leben lebendig und sinnvoll gestalten! Und möge
dunkle Schuld aus einer fernen Nacht, da sie
Schnitzler — Dichter, Arzt und Freund der
den Sohn geboren und umgebracht hatte. Die¬
Frauen — jetzt, nachdem er Therese begraben,
sem Schulderlebnis gegenüber wäre jedes Ent¬
Strebenden, Liebenden und Kämpfenden der
lastenwollen, jede Entschuldigung fehl am
neuen Generation sich zuwenden!
Ort, wäre Beraubung statt Befreiung; denn
Gertrud von Helmskatt
aus dem Schuldgefühl schöpft Therese das Ein¬