I, Erzählende Schriften 35, Therese. Chronik eines Frauenlebens, Seite 69

Therese
box 6/2
35. Tnst###
1— —
mit großen Reonern eine Zuhorerschaft von nicht einmal
Stimmen und einen starken Verlust für die großen politi¬
100 Menschen erreichen.
schen Parteien herbeiführen durften. Zum anderen sind
Les
Die Münchener Vorgänge, bei denen Stresemann
seit den vier Jahren, die seit der letzten Wahl verflossen
von den Nationalsozialisten niedergeschrien wurde, spie¬
täglich
sind, über drei Millionen Wähler herangewachsen, deren
len bei der Betrachtung der politischen Einstellung des
blatt),
Ansichten abzuschätzen heute kaum möglich ist. Es muß deutschen Volkes keine Rolle. Die organisierten Schreier
wichtig
könnten, aber die Dichter können sicherlich nicht mehr tun.
Tages drangen herauf, die Welt war wach. Mein Kind,
— Sie st
Hier habe ich zwei Romane: „Therese“ von Artur Schnitz¬
fühlte Therese, mein Kind! Es lebt, lebt, lebt! . ..“ Und
keine Ahnung
ler und „Jennie Gerhard“ von Theodor Dreiser. Ich sagte
nun soll der amerikanische Romancier noch einige
kenne die beid
schon, daß ich gern und oft darin blättere. Welch rührendes
Worte sagen. (Der alte Herr öffnete das zweite der Bücher).
geistert sind, d
Mitgefühl bekundet der geniale österreichische Poet und
Wollen Sie ihm Gehör schenken? Er verdient es.
Enthusiasmus
mit ihm der rasch zur Berühmtheit emporgestiegene ame¬
Dreiser enthüllt uns das Empfinden eines Mädchens,
lers ist ein
rikanische Romancier für die ledigen Mütter und die un¬
das sich einem Manne hingab, der ihr die Ehe versprach.
Lebens, wie
ehelichen Kinder. Kaum wird man in der modernen Welt¬
jedoch kurz vor der Hochzeit starb... „Jennie sollte nun,“
Frau soll sich
literatur ein ergreifenderes Kapitel zu entdecken vermögen
so schreibt der Romancier, „am eigenen Leibe die unge¬
finden? Sie
als das der unglücklichen „Therese“ von Schnitzler ge¬
rechte Beurteilung eines natürlichen Vorganges erfahren,
bald darauf ei
weihte, worin er ihre schwere Stunde schildert. (Der alte
den m#n wenn ihr Bräutigam nicht gestorben wäre,
läßt, als er bei
Herr öffnete das eine der Bücher). Ich darf Ihnen wohlwahrscheinin als enwas Geheiligtes betrachtet hätte. Ob¬
freuden!“ welc
einige Sätze vorlesen? Nun denn, hören Sie: ... „Mut¬
wohl sie selbst un instande war, zu erkennen, worin sich
eine bedauern
ter!... Sie wußte, daß sie es werden sollte, daß sie es
ihr Fall von anderenällen eines natürlichen Lebens¬
Kinde trennen,
war, aber es ging sie eigentlich nichts an. Sie fragte sich
vorgangs unterscheide, so deß das Verhalten ihrer Mit¬
Beute vieler
wohl, ob es anders wäre, wenn sie ihr Frauenlos in einer
menschen sie doch fühlen, daß Erniedrigung ihr Los, und
anderen, in einer schöneren Weise hätte erleben dürfen,
Sünde sowohl der Grund als auch das Wesen ihrer Lage
si
als ihr nun einmal beschieden war, wenn sie wie andere
sei. Es schien fast, als wolle man in ihr die Liebe und die
rei
Mütter, in einer wenigstens äußerlich gefestigten Bezie¬
Fürsorge ersticken, die man später wiederum von ihr als
hung zu dem Vater des Kindes, oder wenn sie gar als
eine selbstverständliche Pflicht ihrem Kinde gegenüber
Ehefrau innerhalb eines geordneten Hausstandes die
verlangen würde. Es schien fast, als betrachte man die
K
Stunde der Geburt hätte erwarten dürfen. Aber all das
keimende und sehr wesentliche Liebe der werdenden Mut¬
lie
war ihr so unvorstellbar, daß sie es sich auch nicht als ein
ter als etwas Schlechtes. Obgleich ihr weder der Galgen
3
Glück vorstellen konnte...“ Und als dann das Kind zur
noch der Kerker früherer Jahrhunderte als Strafe drohten,
ei
Welt kommt und die verzweifelte Mutter das Kleine unter
sahen die Menschen, die um sie herum waren, in ihrer
ta
die Bettkissen steckt, um es zu ersticken, und bald darauf
Unwissenheit und Stumpfheit doch nichts anderes in
geb
erschöpft aus tiefem Schlaf erwacht, da schildert der
ihrem Zustand, als einen verruchten und vorbedachten
Eur
Dichter: .. „Sie wachte auf wie aus einem furchtbaren
Angriff auf die bestehende Gesellschaftsordnung, auf dem
spie
Traum. Sie wollte schreien, aber sie vermochte es nicht.
die Strafe der Mißachtung stand. Es blieb ihr nichts übrig,
Roll
Was war nur geschehen? Wo war das Kind? Hatte man es
als den verächtlichen Blicken der Menschen auszu¬
zur
ihr weggenommen? War es tot? War es begraben? Was
weichen und schweigend die große Veränderung zu ertra¬
Gesell
hatie sie denn mit dem Kind getan? Da sah sie die Kissen
gen, die nun mit ihr vorging. Merkwürdigerweise emp¬
40
unglückliches
hoch aufgeschichtet neben sich. Sie schleuderte sie fort. Und
fand sie weder unnütze Reue noch auch nur ein Bedauern.
muß unter dem
da lag das Kind. Mit weit offenen Augen lag es da, ver¬
Ihr Herz war rein und voller Frieden. Es war auch von man ihnen wi
zog die Lippen, die Nasenflügel, bewegte die Finger und
Leid beschwert, aber von einem milden Leid, einer schwan¬
brechen. „Fräul
nieste. Therese atmete tief, fühlte sich lächeln und hatte
kenden Ungewißheit, die zuweilen ihre Augen über¬
men. Sie erhäl
Tränen im Aug. Sie zog den Knaben nah an sich heran,
fließen ließ ...“ (Der alte Herr legte das Buch nieder.)
tigung, man gen
nahm ihn in die Arme, preßte ihn an ihre Brust. Er
Nicht wahr, teure Freundin, diese Worte gehen zum
und selbst eine
drängte sich an sie und trank. Therese seufzte tief auf, sie
Herzen? Sie bezeugen, daß das bedauernswerte Geschöpf, verweigert, weil
schaute um sich, es war ein Erwachen wie nie zuvor. das Fräulein Mutter verständnisvolle Fürsprecher im lich ohne dadum
Morgenschein schwebte durch den Raum, Geräusche des Schrifttum aller Kulturstaaten hat?
Und erst das ar