I, Erzählende Schriften 34, Spiel im Morgengrauen. Novelle, Seite 34

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34. Spiel in
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Dr. Max Goldschmidt
Büro für Zeitungsausschnitte
BBRLIN N4
Telefon: Norden 3051
Ausschnitt aus:
Neue freie Presse, Wien
28.Mai1927
Was der Dichter nicht weiß.
Zur Analyse von Schnitzlers Novelle „Spiel im
Morgengrauen“.
□ Von Dr. Alfred Winterskein.
„Du denkst, wir leben mit ihm unter
Sonne und Sternen, und wir sind ihm nichts
als Partner an einem Spieltisch“
Schnitzler: „Der Ruf des Lebens.“
Jedes vollendete künstlerische Kunstwerk gleicht einem
Organismus. Wo ein Sprung im Zusammenhange der Teile
sichtbar wird, regt sich der Verdacht, daß die restlose künst¬
lerische Gestaltung an der Unmöglichkeit gescheitert ist, den
an Widersprüchen reichen unbewußten Anteil der
Dichtung völlig zu sublimieren. Auch bei der Lektüre von
Schnitzlers neuester mit dem unnachahmlichen Tonfall ihres
Dichters erzählten Novelle fiel mir eine Anzahl scheinbar
unmotivierter Züge und Wendungen als künstlerisch un¬
befriedigend auf. Dies gab mir Anlaß zu einer Problem¬
stellung, die ich mit Hilfe psychoanalytischer Erkenntnisse zu
lösen versuchte.
Der Held der Erzählung, der Infanterieleutnant Willi
Kasda, wird vom Dichter als ausgesprochen narzißischer
Typus geschildert. Es fehlt ihm jede tiefere Beziehung zu
seinen Nebenmenschen, er ist auch keiner rechten Hingabe an
eine Frau fähig; sein Interesse ist ausschließlich auf seine
eigene Person in ihrer äußerlichsten Form, auf seine Uniform,
sein Portepee und seine Kappen gerichtet. Dieser selbe Mann
entschließt sich aber ganz plötzlich, einen Kameraden, mit dem
ihn nicht einmal eigentliche Freundschaft verbindet, dadurch
zu retten, daß er für ihn den größten Teil seines bescheidenen
Barvermögens im Hasardspiel riskiert. Oberleutnant
Bogner, der wegen einer „dummen Spielgeschichte“ den Dienst
quittieren mußte und Kassier geworden ist, hat sich nämlich
aus der ihm anvertrauten Kasse Geld ausgeliehen und be¬
fürchtet nun seine Entdeckung. Wir gelangen ein Stück
näher zum Verständnis der befremdenden Handlungsweise
Willis, wenn wir Bogner geradezu als Doppelgänger
des Leutnants, mit allen durch die Psychoanalyse aufge¬
zeigten Eigentümlichkeiten eines solchen, auffassen. Ich er¬
wähne nur den Umstand, daß Bogner gleichzeitig mit Willi
sein Glück im Spiel (beim Rennen) versucht. Bogner ist aber
auch irgendwie ein in die Zukunft projizierter Willi.
Zwischen dem Menschen und seinem Doppel=Ich besteht
natürlich eine schicksalshafte Verkettung, die sich einer¬
seits in einer rätselhaften Anziehung, anderseits in
einer heftigen Angst und einem Abscheu vor dem ver¬
folgenden Doppelgänger (Willi bezeichnet Bogner einmal
als zudringlich und unverschämt) äußert. Mit der narzißi¬
schen Bedeutung hängt dann auch die Todesbedeutung aufs
engste zusammen. Der Verfolger ist aber nicht nur das
eigene Ich, die ehemals geliebteste Person, sondern häufig
auch ein Vertreter des Vaters oder des (älteren) Bruders.
Von dem Oberleutnant Bogner wird berichtet, daß er
verheiratet und Vater eines Knaben ist. Der Dichter deutet
an, daß er eine nicht standesgemäße Verbindung einge¬
zangen ist (ähnlich wie Willis Onkel Robert Wilram). Aus
der Rivalitätseinstellung zu Vater und Bruder erklärt sich
gleichfalls der Haß gegen den Doppelgänger. Daß sich Willi
für Bogner sozusagen opfert, ist bloß ein durch das Schuld¬
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Bedeutung des abgenommenen Hutes, die mit gewissen
feindseligen Wünschen des Oedipuskomplexes in Beziehung
steht, will ich hier nur hinweisen.) Es erscheint bloß als
eine Projektion der eigenen verbrecherischen Tendenzen,
wenn Schnabel als abgestrafter Verbrecher bezeichnet wird
Auch die bevorstehende Reise des Konsuls nach Amerikä
fügt sich in diesen psychologischen Zusammenhang gut ein:
Amerika ist ja nicht nur eine Zuflucht der Verbrecher,
sondern das Land jenseits des großen Wassers ist auch
symbolisch das Land des Todes. Betrachten wir die andere
Seite des Oedipuskomplexes, die Einstellung des Sohnes
zur Mutter, so finden sich genug Hinweise auf die Fixierung
Willis an den mütterlichen Typus. Auch die Liebes¬
bedingung des „geschädigten Dritten“ (des Vaters) scheint
nicht zu fehlen. Der Leutnant ist gegen Frau Keßner früher
einmal aggressiv gewesen (indes er sich gegen ihre Tochter
wie überhaupt gegen junge Mädchen recht passiv verhält):
er steigt im Kurpark einer Dame nach, die einen Knaben
an der Hand führt, also wohl verheiratet oder verwitwet ist.
Der Konsul hat eine Freundin, eine kleine Schauspielerin,
Fräulein Rihoschek, die Willis Phantasie lebhaft be¬
schäftigt, zumal sie gleichzeitig ein Verhältnis mit einem
jungen Schauspieler hat, in dem wir unschwer eine Ab¬
spaltung des Leutnants erblicken dürfen. Wir sind nun
auch so weit gelangt, um die unbewußte Bedeutung der
Spielpartie zwischen dem Konsul und Willi zu erraten.
Dieser will dem Konsul, „der auf seinem Geld wie ein
Drachen sitzt,“ sein Vermögen entreißen, „um köstliche
Weiber zu gewinnen,“ das heißt, wohl letzten Endes die
Mutter. (Die Besessenheit des Spielers erklärt sich eben
aus der Unerfüllbarkeit dieses Wunsches. Er ist ein ähn¬
licher Typus wie der Don Juan.) Daß eine Frau den
eigentlichen Kampfpreis darstellt (ich erinnere hier an die
Variation dieses Motives in „Casanovas Heimfahrt"), geht
aus gewissen dem Unbewußten Willis entstammenden Ein¬
fällen unzweideutig hervor. Die Kartenkönigin nimmt für
ihn beim Spiel die Züge des Fräuleins Rihoschek an, und
als im Bette die Karten vor dem inneren Auge des Er¬
müdeten vorübertanzen, denkt Willi: „Die Herzdame war
eigentlich das Fräulein (?) Keßner.“ Es ist auch gewiß
kein Zufall, daß die Zahl neun beim Kartenspiel eine so
besondere Gefühlsmarke erhält („sie klang geisterhaft durch
den Raum“
).
Nur so viel sei hier bemerkt, daß die
symbolische Bedeutung der Neun mit dem Inhalte des
Oedipuskomplexes in einem gewissen Zusammenhange zu
stehen scheint.
Der Leutnant unterliegt im Spiel gegen den Konsul.
„Die blanken Tausender, die er aus der Brieftasche
Schnabels in seine herübergezaubert hat“, verliert er alle
wieder, ja mehr als das, er ist am Schlusse dem Konsul die
Summe von elftausend Gulden schuldig und dieser ein un¬
erbittlicher Gläubiger. Angst und Schuldgefühl wegen der
gegen den übermächtigen Vater gerichteten unbewußten
Todeswünsche bemächtigen sich nun Willis und hier setzt die
scelische Peripetie bei ihm ein. Er sinnt auf einen Ausweg
aus dieser furchtbaren Situation und beschließt, sich an seinen
Onkel Robert Wilram um Hilfe zu wenden, der ihn nach
dem Tode seiner Mutter bis zu einem gewissen Zeitpunkte
mit Geldsendungen regelmäßig unterstützt hatte und für ihn
wohl einen Vaterersatz darstellt. Der gütige Vater soll ihm
gegen den bösen, der ihn zugrunde richten will. helfen. Doch
jener hat bereits sein ganzes Vermögen o“ ne Frau, ein
ehemaliges Blumenmädel, überschrieben mit dem Willi
seinerzeit seinen Onkel sozusagen betrog. hatte. Dieser
selbst bezeichnet sie geradezu als Dirne,
ihr aber bei
aller seiner symboliich angedeuteten erotischen Unzulänglich¬
keit masochistisch verfallen. Leopoldine, in der Willi seine
einzige Retterin erblickt, ist zweifellos eine Mutterrepräsen¬
tantin; der ihr zugeschriebene Dirnencharakter, der doch im
schärfsten Gegensatze hiezu zu stehen scheint, entspricht den
von Freud aufgezeigten Liebensbedingungen eines be¬
stimmten Typus der männlichen Objektwahl und leitet sich
aus gewissen neurotischen Pubertätsphantasien ab. Willi
sucht nun Leopoldine, die von ihrem Manne getrennt lebt,
auf und trifft zu seiner Ueberraschung eine Geschäftsfrau
mit einem Zwicker auf der Nase an, eine Art Wucherin. Der
seltsame, fast gespenstische Eindruck, den diese unmotivierte
Wandlung auf den Leser ausübt. beruht wohl darauf, daß