I, Erzählende Schriften 34, Spiel im Morgengrauen. Novelle, Seite 35



Kasda, wird vom Dichter als ausgesprochen narzißischer
besondere Gefühlsmarke erhält („sie klang geisterhaft durch
Typus geschildert. Es fehlt ihm jede tiefere Beziehung zu
den Raum") Nur so viel sei hier bemerüt, daß die
seinen Nebenmenschen, er ist auch keiner rechten Hingabe an
symbolische Bedeutung der Neun mit dem Inhalte des
eine Frau fähig; sein Interesse ist ausschließlich auf seine
Oedipuskomplexes in einem gewissen Zusammenhange zu
eigene Person in ihrer äußerlichsten Form, auf seine Uniform,
stehen scheint.
sein Portepee und seine Kappen gerichtet. Dieser selbe Mann
Der Leutnant unterliegt im Spiel gegen den Konsul.
entschließt sich aber ganz plötzlich, einen Kameraden, mit dem
Die blanken Tausender, die er aus der Brieftasche
ihn nicht einmal eigentliche Freundschaft verbindet, dadurch
Schnabels in seine herübergezaubert hat“ verliert er alle
zu retten, daß er für ihn den größten Teil seines bescheidenen
wieder, ja mehr als das, er ist am Schlusse dem Konsul die
Barvermögens im Hasardspiel riskiert. Oberleutnant
Summe von elftausend Gulden schuldig und dieser ein un¬
Bogner, der wegen einer „dummen Spielgeschichte" den Dienst
erbittlicher Gläubiger. Angst und Schuldgefühl wegen der
quittieren mußte und Kassier geworden ist, hat sich nämlich
gegen den übermächtigen Vater gerichteten unbewußten
aus der ihm anvertrauten Kasse Geld ausgeliehen und be¬
Todeswünsche bemächtigen sich nun Willis und hier setzt die
fürchtet nun seine Entdeckung. Wir gelangen ein Stück
scelische Peripetie bei ihm ein. Er sinnt auf einen Ausweg
näher zum Verständnis der befremdenden Handlungsweise
aus dieser furchtbaren Situation und beschließt, sich an seinen
Willis, menn wir Bogner geradezu als Doppelgänger
Onkel Robert Wilram um Hilfe zu wenden, der ihn nach
des Leutnants, mit allen durch die Psychoanalyse aufge¬
dem Tode seiner Mutter bis zu einem gewissen Zeitpunkte
zeigten Eigentümlichkeiten eines solchen, auffassen. Ich er¬
mit Geldsendungen regelmäßig unterstützt hatte und für ihn
wähne nur den Umstand, daß Bogner gleichzeitig mit Willi
wohl einen Vaterersatz darstellt. Der gütige Vater soll ihm
sein Glück im Spiel (beim Rennen) versucht. Bogner ist aber
gegen den bösen, der ihn zugrunde richten will, helfen. Doch
auch irgendwie ein in die Zukunft projizierter Willi.
jener hat bereits sein ganzes Vermögen auf seine Frau, ein
Zwischen dem Menschen und seinem Doppel=Ich besteht
ehemaliges Blumenmädel, überschrieben, mit dem Willi
natürlich eine schicksalshafte Verkettung, die sich einer¬
seinerzeit seinen Onkel sozusagen betrogen hatte. Dieser
seits in einer rätselhaften Anziehung, anderseits in
ihr aber bei
einer heftigen Angst und einem Abscheu vor dem ver¬
selbst bezeichnet sie geradezu als Dirne,
folgenden Doppelgänger (Willi bezeichnet Bogner einmal
aller seiner symbolisch angedeuteten erotischen Unzulänglich¬
als zudringlich und unverschämt) äußert. Mit der narzißi¬
keit masochistisch verfallen. Leopoldine, in der Willi seine
einzige Retterin erblickt, ist zweifellos eine Mutterrepräsen¬
schen Bedeutung hängt dann auch die Todesbedeutung aufs
tantin; der ihr zugeschriebene Dirnencharakter, der doch im
engste zusammen. Der Verfolger ist aber nicht nur das
schärfsten Gegensätze hiezu zu stehen scheint, entspricht den
eigene Ich, die ehemals geliebteste Person, sondern häufig
auch ein Vertreter des Vaters oder des (älteren) Bruders.
von Freud aufgezeigten Liebensbedingungen eines
Von dem Oberleutnant Bogner wird berichtet, daß er
stimmten Typus der männlichen Objektwahl und leitet i
ich
verheiratet und Vater eines Knaben ist. Der Dichter deutet
aus gewissen neurotischen Pubertätsphantasien ab. Willi
an, daß er eine nicht standesgemäße Verbindung einge¬
sucht nun Leopoldine, die von ihrem Manne getrennt lebt,
gangen ist (ähnlich wie Willis Onkel Robert Wilram). Aus
auf und trifft zu seiner Ueberraschung eine Geschäftsfrau
der Rivalitätseinstellung zu Vater und Bruder erklärt sich
mit einem Zwicker auf der Nase an, eine Art Wucherin. Der
gleichfalls der Haß gegen den Doppelgänger. Daß sich Willi
seltsame, fast gespenstische Eindruck, den diese unmotivierte
für Bogner sozusagen opfert, ist bloß ein durch das Schuld¬
Wandlune auf den Leser ausübt, beruht wohl darauf, daß
bewußtsein des Helden bedingter sekundärer Zug. Wir
für das Unbewußte plötzlich eine Mutterfigur mit einer
befinden uns hier auf dem Boden der infantilen Oedipus¬
Vaterfigur vertauscht worden ist. Leopoldine sagt selbst:
situation, aus der ja so viele fruchtbare Antriebe für die
„Ich bin von niemandem abhängig, wie — ein Mann.“
Produktion des Dichters erfließen. Fassen wir den Leutnant
Nicht nur ihre Beschäftigung, auch kleine symbolische Züge
als Sohnestyp und Bogner als Bruder=Vater auf, so wird
deuten auf ihren männlichen Charakter hin. Und wenn von
es uns nicht schwer, sowohl in dem Onkel Robert Wilram
ihr gesagt wird (S. 142): „Er sah, wie sie immer seinem
als auch in dem dämonischen Konsul Schnabel eine Vater¬
Blick, seinen Bewegungen gefolgt war, mit Spott, wenn
imago zu erblicken. (Die weitgehende Namensähnlichkeit
nicht gar mit Schadenfreude“ fühlen wir uns geradezu an
des Onkels mit dem Vaterrepräsentanten Robert Pilgram
das Verhalten des — Konsuls erinnert. Leopoldine rächt
in Schnitzlers Einakter „Die Gefährtin“ ist gewiß nicht zu¬
sich für den Schimpf, den ihr Willi seinerzeit angetan, indem
Eine Atmosphäre des Unheimlichen umhüllt diesen
fällig.)
er sie für ihre Hingabe wie ein käufliches Frauenzimmer
Konsul, wie sie eben für die Wiederkehr tiefverdrängter in¬
mit einem Zehn=Gulden=Schein entlohnt hat, jetzt dadurch,
fantiler Komplexe eigentümlich ist. Schnabel trägt die Züge
daß sie ihm für die in der Kaserne genossene Liebesnacht eine
einer ursprünglich geliebter Person, die sich auf Grund des
Tausend=Gulden=Note (warum nicht auch nur zehn Gulden?)
paranoischen Mechanismus in einen Verfolger verwandelt
hinwirft. Der Leutnant, im Innersten getroffen, vergleicht
hat. Willi fühlt sich vom Konsul mit den Blicken verfolgt
sich jetzt selbst mit einer Dirne, die der Besuch eines Herrn
(Seite 38), er glaubt, um dessen Mund ein spöttisches
empfangen hat. Durch diesen Vergleich schimmert aber auch
Lächeln zu gewahren (Seite 44), er spürt, daß der Konsul
die tiefere unbewußte Bedeutung der Szene durch: der
sofort sein Kommen, ohne aufzublicken, bemerkt hat
Sohn wird vom Vater im Einklange mit jener passiven
(Seite 51). Der letchte Beobachtungswahn des Leutnants
Einstellung des kleinen Knaben zum Vater, die eine regel¬
hat sich bereits früher während seines Besuches bei der
mäßige Ergänzung des Oedipuskomplexes bildet, wie ein
Familie Keßner verraten, als er aus den Worten eines
Weib, wie die Mutter behandelt. Den Durchbruch dieser
anderen Gastes, eines Rechtsanwaltes, stets nur Ironie
jemininen Gefühlsströmung, die dann zu der Prostitutions¬
herauszuhören vermeinte. Während der Wagenfahrt von
phantasie führt, empfindet jedoch der überstarke Narzißmus
Baden nach Wien tritt wieder die positive Gefühlseinstelluna
des Leutnants als unerträglich (sein Spiegelbild „widert
zum Vater mehr in den Vordergrund. Knapp vorher wird
ihn unsäglich an"); sein eigenes Ich=Ideal verurteilt ihn
noch ein Todeswunsch Willis in bezug auf den Konsul
auch wegen seiner gegen den Vater gerichteten Mord¬
(Seite 67) erwähnt, aber dann heißt es (Seite 73, 74), als
impulse — zum Tode und ihm bleibt nichts mehr übrig,
der Leutnant im Fiaker seinen Begleiter, der in Er¬
als zum Revolver zu greifen.
innerungen versunken scheint, von der Seite betrachtet: „Er
Ein Biograph Schnitzlers hat die Anwendung der
hatte den Hut auf der Wagendecke liegen, seine Lippen
Tiefenpsychologie, wie sie im vorstehenden versucht wurde,
waren halb geöffnet, wie zu einem Lächeln, # sah älter
„widerwärtig“ genannt. Ich teile diese Auffassung nicht.
und milder aus als vorher.“ Und an einer späteren Stelle
Wenn wir mit analytischem Verständnis das nicht jederzeit
(Seite 85): Zurückgelehnt, den Hut vor sich auf der
erfolgreiche Ringen des schaffenden Künstlers mit den
Decke, mit geschlossenen Augen, saß der Konsul da. Wie
Mächten des eigenen Unbewußten betrachten, wird der Genuß
mild, wie gütig sah er aus!" Unmittelbar darauf wird der
am Kunstworke, scheint's mir, dadurch nicht geschädigt. Es
fast väterliche Ton hervorgehoben, in dem der Konsul zum
bleibt noch für den, der Probleme sucht, des Geheimnis¬
Leutnant spricht. Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir in
vollen genug. Wiees Freud zuletzt („Die Medizin der Gegen¬
beiden Situationen den Konsul als Toten auffassen, bei
dessen Anblick reaktiv die positive, zärtliche Gefühlsströmung
wart in Selbstdarstellungen“) formuliert hat, vermag ja die
des Sohnes die Oberhand gewinnt. (Auf die symbolische Analyse nichts zur Aufklärung der künstlerischen Begabuna
zu sagen und auch die Aufdeckung der Mittel, mit denen der
Künstler arbeitet, der künstlerischen Technik, fällt ihr
nicht zu.
1 A4A