I, Erzählende Schriften 33, Traumnovelle, Seite 2

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dich zu begnadigen. Aber du merktest ihren Blick nicht oder
wolltest ihn nicht merken. Plötzlich aber, immer noch mit ge¬
fesselten Händen, doch in einen schwarzen Mantel gehüllt,
standest du ihr gegenüber, nicht etwa in einem Gemach, sondern
irgendwie in freier Luft, schwebend gleichsam. Sie hielt ein
Pergamentblatt in der Hand, dein Todesurteil, in dem auch
deine Schuld und die Gründe deiner Verurteilung aufgezeichnet
waren. Sie fragte dich — ich hörte die Worte nicht, aber ich
wußte es —, ob du bereit seiest, ihr Geliebter zu werden, in
diesem Fall war dir die Todesstrafe erlassen. Du schütteltest
verneinend den Kopf. Ich wunderte mich nicht, denn es war
vollkommen in der Ordnung und konnte gar nicht anders sein,
als daß du mir auf alle Gefahr hin und in alle Ewigkeit die
Treue halten mußtest. Da zuckte die Fürstin die Achseln,
winkte ins Leere, und da befandest du dich plötzlich in einem
unterirdischen Kellerraum, und Peitschen sausten auf dich nieder,
ohne daß ich die Leute sah, die die Peitschen schwangen. Das
Blut floß wie in Bächen an dir herab, ich sah es fließen, war
mir meiner Grausamkeit bewußt, ohne mich über sie zu wun¬
dern. Nun trat die Fürstin auf dich zu. Ihre Haare waren
aufgelöst, flossen um ihren nackten Leib, das Diadem hielt sie
in beiden Händen dir entgegen — und ich wußte, daß sie das
Mädchen vom dänischen Strande war, das du einmal des
Morgens nackt auf der Terrasse einer Badehütte gesehen
hattest. Sie sprach kein Wort, aber der Sinn ihres
Hierseins, ja ihres Schweigens war, ob du ihr Gatte und der
Fürst des Landes werden wolltest. Und da du wieder ab¬
lehntest, war sie plötzlich verschwunden, ich aber sah zugleich,
wie man ein Kreuz für dich aufrichtete; — nicht unten im
Burghof, nein, auf der blumenübersäten, unendlichen Wiese,
wo ich in den Armen eines Geliebten ruhte, unter all den
andern Liebespaaren. Dich aber sah ich, wie du durch alter¬
tümliche Gassen allein dahinschrittest ohne jede Bewachung,
doch wußte ich, daß dein Weg dir vorgezeichnet und jede Flucht
unmöglich war. Jetzt gingst du den Waldpfad bergan. Ich
erwartete dich mit Spannung. aber ohne jedes Mitgefühl. Dein
Körper war mit Striemen bedeckt, die aber nicht mehrzbluteten.
Du stiegst immer höher hinan, der Pfad wurde breiter, der
Wald trat zu beiden Seiten zurück, und nun standest du am
Wiesenrand in einer ungeheuren, unbegreiflichen Ferne. Doch
du grüßtest mich lächelnd mit den Angen, wie zum Zeichen.
daß du meinen Wunsch erfüllt hattest und mir alles brachtest,
wessen ich bedurfte: — Kleider und Schuhe und Schmuck. Ich
aber sand dein Gebahren über alle Maßen töricht und sinnlos,
und es lockte mich, dich zu verhöhnen, weil du aus Treue zu
mir die Hand einer Fürstin ausgeschlagen, Foltern erduldet und
nun hier heraufgewankt kamst, um einen furchtbaren Tod zu¬
erleiden.— Ich lief dir entgegen, auch du schlugst einen immer

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33.
raumnovelle
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# K. K e e icl 1 120
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Dr. Max Goldschmidt
Büro für Zeitungsausschnitte
Telelon; Norden 3051
BERLIN N4
Ausschnitt aus:
8 Uhr Abendblatt, Berlin
Jlai 1926
Schnit lers „Traumnovelle“.
Arthur Schnitzlers neustes Werk.
Genau am siebzigsten Geburtstag Siegmund Freuds erscheint (im
Verlag S. Fischer, Berlin) Schnitzlers neuestes Büchlein „Traum¬
novelle“, — bewüßtoder=unbewußen Huldigung des Dichters
für den weltberühmten Landsmann, Stadigenossen und Berufs¬
gefährten. Freud versuchte Traumdeutung zur Wissenschaft zu erheben
zur rationellen Befreiung von einer der furchtbarsten Menschheits¬
geißeln: von der lebenslänglichen Marterung der Irdischen durch die
unfaßbaren Mächte des Unterbewußtseins.
Schnitzler, der Arzt, formt die Theorie des Arztes Freud zu einer
Novelle, deren Held wiederum ein Arzt ist.
Viele zeitgenössische
Schriftsteller nutzten für ihre Produktion Freuds Lehre .. viele,
ohne die Theorie zu epischem Geschehen, zur Menschgestaltung formen
zu können . .. manche mit erbarmungslosem und düsterwühlendem
Fanatismus. Schnitzler gab mit seelenkundigem Auge und virtuoser
Hand ein zartes, klares, rundes Gebilde. Schicksal zweier Menschen
entströmt wild und zerstörerisch einem Punkt, durch eine Nacht und
einen Tag, um in der nächsten Nacht, friedsam und geordnet, sich zum
Kreis zu schließen, der als Ueberwundenes entschwebt.
Jener Punkt bedeutet in der Ehe des Arztes und seiner Frau die
Grenze, da liebendes Zusammenleben träge Gewohnheit zu werden
droht. Nach einer beglückten Liebesnacht brechen verwirrend und
vernichtend aus den beiden Bürgerlichen zugleich alle nicht gelebten —
verdrängten — Möglichkeiten ihres Liebesdaseins. Er taumelt, während
nächtlicher Heimkehr von einem Gestorbenen, durch viele romantische
Frauen=Abenteuer, deren keines er ausgenießen darf. Sie träumt
indessen: wie sie den Mann preisgibt, tausendfach betrügt und aus
Kreuz schlagen läßt. In der Wirklichkeit und in der Unwirklichkeit
fügten sie sich alle Scheußlichkeiten zu, tobten sich ihre romantisch¬
ungezügelten Instinkte los und frei. Sodaß sie am Morgen in tief
bewußter Feindschaft und Fremdheit sich in die Augen schaudern.
Bis im klaren Tag der Mann, als er seine dunklen Erlebnisse zu
Ende leben will. nicht wieder in das Labyrinth der Abenteuer zurück¬
findet, überall Nüchternheit und Wesenloses aufstöbert, wo er ent¬
rückende Entzückungen wähnte. Er trifft, aus den Verwirrungen der
Wirklichkeit heimkehrend, die Frau gleichfalls heimgekehrt aus den
Verwirrungen verräterischen Traums. Sodaß sie sich im Glanz der
bewußten, selbstgeschaffenen Wirklichkeit glücklich wiederfinden für
Wunderschön und mit einer Sicherheit, die als graziöse Leichtig¬
keit erscheint, wandelt sich in dieser rasch hinrauschenden Novelle die
Wirklichkeit verworrener Abenteuer ins Traumhaft=Unwirkliche und
die Unwirklichkeit des Traums zu niederschmetternder Wirklichkeit.
Welche Ausschweifung wiegt schwerer: die der nichtwirklich ge¬
wordenen Wirklichkeit, oder die des als krasse Wirklichkeit gelebten
Traums? Pirandellos verschmitzte Augen steigen auf.
Aber Schnitzler ist entschiedener als Pirandello, der dramatisch
virtuos erkenntniskritische Probleme aufrührt, bloßlegt und als unbe¬
antwortete Frage dem Publikum einhämmert. Kurt Pinthus.