I, Erzählende Schriften 33, Traumnovelle, Seite 10

Traumnovelle
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33. 11
Dr. Max Goldschmidt

Büro für Zeitungsausschnitte
BERLIN N4
Teleion: Norden 3051
Ausschnitt aus:
Vossische Zeitung, Berlin
13. Juni 1926
Neue Novellen von Schnitzler
Die Fraudes Richters — Traumnovelle.
Die Form der Novelle wird nur da erfüllt, wo ein naives
Erzählertalent sich der schicsalhaften Führung einer Fabel ler¬
läßt. Je mehr ein Schriftsteller um diese Form kämpft, vesto
problematischer scheint sie ihm zu werden. Auch Schnitzler ist ein
Prahlematiker dieser Form gedlieben, sooft er sich um sie bemüht
hat. Nach dem Monolognovellenexperiment von „Fräulein Else“
kehrt er in der „Frau des Richters“ (Propyläenverlag,
Berlin) zu objektiverer Erzählung zurück. Nicht mehr entsteht
die Welt aus einem Gehirn, der Erzähler verteilt sich in die
einzelnen Gestalten, baut eine Ansicht von vielen Augen aus auf,
freilich auch hier wieder die einer Frau mit optischer Verschärfung
vorschiebend. Es ist Schnitzler nicht gegeben, wie ein unbe¬
wegter Goit über seinen Gestalten und ihren Schicksalen zu
thronen; er muß Partei ergreifen; er muß Recht und Unrecht,
Schuld und Sühne verteilen. In der „Frau des Richters“ ruht
sein Glauben sichtbarlich auf dieser Frau, die über ihren schwäch¬
lichen Mann hinweg den Weg zur Selbstbestimmung findet.
Historisch angesiedelt, atmet die Erzählung dichte Atmosphäre:
ein Stück Prosa, schön gebosselt und verziert, flußreich und haftend
mit der Gestalt dieser Frau und dem Fatalismus dieser Ehe,
mit der der Despotismus eines Souveräns spielt.
Fast scheint es, als ob Schnitzler in der „Traumnovelle“
(S. Fischer, Berlin) ein Gegenstück zu diesem Ablauf formen
wollte. Endet jene in die Freiheit und Bürgerlichkeit einer inner¬
lich zerschlissenen, äußerlich aber weiterbestehenden Ehe, so läuft
diese „Traumnovelle“ den umgekehrten Weg aus der Abenteuer¬
lichkeit einer problematisch gewordenen Ehe in die Ordnung und
Zucht erneuter Gemeinschaft der Ehegatten zurück. Hier wird
wieder betonter von einer Figur aus das Schicksal gesehen,
von einem Arzt, der, fünfundbreißigjährig, Vater eines Kindes,
nach einem Beichtgespräch mit seiner Frau, plötzlich die Sehnsucht
nach Abenteuer in sich aufwühlen spürt. Das Schönste dieser
Novelle, die später vor Kraßheiten der Substanz nicht haltmacht,
ist die Einleitung, die Formung der erotischen Stimmung zwischen
den beiden Gatten. Diese subtile Schwebung geht leider im Ver¬
lauf des Berichtes verloren, nicht zuletzt wohl wiederum dadurch,
daß der Dichter kein Gleichgewicht zwischen dem Geschick der Frau
und dem des Mannes zu schaffen versteht, vielmehr ihn ganz in
den Vordergrund drängt. Es ist dieser Mann eine alte
Schnitzlerfigur, ein Arzt, gewöhnt, sozusagen hygienisch zu denken
und zu fühlen, in aller Abenteuersehnsucht gehemmt durch die
Angst vor der Spaltung seines Ichs, die sich in ihm zu voll¬
ziehen droht, und vor der er in die sichere Situation der Ehe
heimkehrt. Die Frau hleibt mit einem Traum außerhalb des
Geschehens, ungedeutet und undeutbar. Aber vielleicht war dies
der Sinn, den der Dichter ohne direkte Hinweise aussagen wollte.
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Artur Schnitzlers neues Buch.?)
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Fridolin, ein angesehener Wiener Arzt mit Mask
blühender Praxis, und Albertine, seine junge Frau, dafür
leben in gutbürgerlicher, unanfechtbarer Ehe; sie haben die ei
ein reizendes Kind. Sie sind also „glücklich“. Neben Denn
diesem ihrem konkreten Dasein läuft nun ein zweites,
Zwie
dunkel schattiertes, von aufregenden Visionen erfülltes:
ihm
letzten
das Traumleben mit seinen romantischen Abenteuern,
mit seinen verwirrenden Ungeheuerlichkeiten, ein buntes
Wein
Mosaik, geflickt aus jenen Stofsen, die der Tag un= Liebh
angetastet ließ. Verdrängte Erotik, sadistische Anwand= ange
lungen, Inzestwünsche. Die grauenhafte Rückseite einer von
nach außen blankpolierten Menschlichkeit. Unverschuldet,
und dennoch belastend; verzeihlich, aber irritierend. Ams sich di
Abend nach einer gemeinsam besuchten Redoute sprechen und b
sich die Gatten gegenseitig aus. Sonderbare Ve= harts
gegnungen rütteln in beiden Menschen längst ver¬
seine
flossene Ereignisse wach, die man tot und über= sonde
wunden glaubte.
aber
Aber siehe da, sie leben, sie glimmen weiter unter Baro#
der Asche der Vergangenheit, traumhaft und seltsam fort -
lockend. Nur Gedankensünde! Und dennoch stark genug, Besuc
um in Fridolin, dem Unruhigeren, wohl auch Dekaden= des
teren, ein furchtbares seelisches Chaos herbeizuführen. sicher
Ein seltsamer Zug von gespenstigen, unheimlichen Er= Alber
lebnissen drängt sich in eine einzige Nacht zusammen, Trau
für den Zuseher bald nicht mehr zu unterscheiden von ein
somnambulen Zuständen: Fridolins ärztliche Visite bei müsse
dem mittlerweile verstorbenen Hofrat in der Schrey¬
Existe
vogelgasse, dessen blonde, längst verlobte Tochter plötz¬
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lich dem Doktor zu Futen liegt, eine rätselhaft plato¬
nische Stunde bei einer Prostituierten in der dunkelsten
abzust
Josefstadt, eine dämmerig=halbbewußte Kaffeehaus= hebt
sitzung in einem Seitengäßchen, mit Nachtigall, dem Wisse
tschechischen Barpianisten, den eine geheimnisvolle Ver= zeuge
pflichtung für den Rest der Nacht in eine Villa im dem
Liebhartstal entführt. Abenteuer, seid ihr wach?
durch
Fridolin drängt sich dem Widerstrebenben auf, und glaub
nun beginnt erst recht ein seltsames Traumleben: der gibt
mitternächtige Besuch beim Maskenverleiher Gibiser mit se
in der Wickenbuggasse, dessen Töchterlein als Piecrette Peer¬
in mystischer Beleuchtung hineinspielt, die grauenhafte Form
Fahrt nach jener Wienerwaldvilla, und das schauerliche Kinde
——
seele
*) S. Fischers Verlag, Berlin.
Korol