I, Erzählende Schriften 31, Fräulein Else, Seite 41

Frac
ulein Else
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Freund, der, enterbt wegen einer Passion für ein abgefeimt-dirnenhaftes Weib,
viel umgetrieben wird und in Abenteuern den Zynismus lernt. Aber während
der gelenkige Mangolf, in Selbstekel und unter Demütigungen, die ihm die
Tränen aus den Augen pressen und ihn aus bösen Träumen aufstöhnen machen,
sich völlig verleugnet, um aufzusteigen, zuckt es in Terra doch noch einmal auf:
rein bleiben! Etwas wie Heimweh würgt ihn, Heimweh nach Kindheit und
Elternhaus, da er der Schwester Lea, die nun Schauspielerm ist, auf der Bank
im Garten das Märchen von den roten Schuhen vorlas . .. Als sich die beiden
Freunde nach Jahren wieder finden, erkennt Terra gelassen (aber vielleicht,
dass noch Weh fern nachzittert), wie fremd sie einander geworden sind, unter
Verrat und Selbstverrat. Sie sind in einer Epoche des Relativismus aufgewach¬
sen, früh über jede Bindung, jede seelisch-sittliche Form hinausgelangt, — und
so vorbereitet, kommen sie an die Herren des deutschen Kaiserreiches heran:
an den Botschafter und Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Grafen Lannas,
der bald Reichskanzler wird, der repräsentative Kanzler der Epoche, leicht,
weltmännisch, ein wenig Asthet (o nur ein ganz klein wenig), sich gern vor¬
urteilslos gebend, über den Reichstag lächelnd, aber gewisse Reformen des
demokratischen Zeitgeistes für „nun einmal unumgänglich“ haltend: „Auf¬
machung“ nennt man dies. Indes Mangolf, im Dienste des Kanzlers, sich
immer weiter hinaufkämpft, nicht in Kühnheit, sondern nur geduldet, der
Bürgerssohn, der erbittert fühlt, wieviel er schlucken muss, um einmal herrschen
zu können, und sich seinen Zynismus in Lebensstärke umlügt, — abenteuert
Terra noch und gerät an die „Generalagentur für das gesamte Leben, von Prass
macht alles ein großes Schwindelunternehmen zeitsymbolisch-wilhelminischer
Prägung, das bald zusammenkracht. Er liebt die ehrgeizige Tochter des Kanz¬
lers, Alice Lannas, mit den schmalen, wachen Augen und dem hellen Geist,
die wagnisgewillt sich ihm einmal hingegeben, aber ehrgeizverzehrt doch noch
mehr herrschen als lieben will; er macht sich an den Kanzler selbst heran und
redet ihm, dem „das Urteil der gebildeten Jugend immer wertvoll gewesen ist
(Aufmachung!), in einer Marquis Posa-Szene in starken Sätzen von Humanität,
redet sich in einen ästhetizistischen Rausch hinein, dass sich ihm Blick und
Stimme verschleiern (ist sein Gefühl echt oder unecht: er weiß es wohl selber
nicht), worauf Graf Lannas die gebildete Jugend als „Schwärmer“ abtut, „die
Art Mensch, die nicht von Tatsachen, nur von Ideen ausgeht“. Terra und Man¬
golf üben Verrat um Verrat gegeneinander, in sachlichem Zynismus, äußerlich
von weltmännischer Freundschaft, und finden immer die eindringlichste,
bebend-genaueste Formel für emnander. Mangolf: „Merkwürdig. Deine ersten
Enttäuschungen und Einblicke haben dich für dem eigenes Dasein zum Diogenes
und Nihilisten aus Moral gemacht. Für das Menschengeschlecht aber glaubst
du hartnäckig an eine hohe Zukunft. Terra: „Merkwürdig. Du glaubst auf
Erden nur an immer erneutes Elend und Verbrechen, dich selbst aber soll das
Leben belohnen für deine Verachtung. Sie dürfen sich, nach solch beißender
Wechselrede, die Hände reichen. Mangolf, der machtlüstern in die alldeutsche
Bewegung eintritt und Geheimrat und Geheimer Legationsrat geworden ist,
heiratet die Tochter des Schwerindustriellen Knack und wird bald darauf Unter¬
staatssekretär, „Vertreter des Hauses Knack im Schoss der Regierung“. Terra,
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