31. Fraeulein Else
6 e e e
box 5/1
den Mythos vom
„Leben müssen nicht Menschen, sondern die Wirtschaft“, —
Moloch des zwanzigsten Jahrhunderts, vom neuen Gott, dem zu Ehren chorische
Hymnen zum Himmel steigen: „Kobesmythe! Die neue Religion, nach der
unser ganzer Erdteil in furchtbaren Zuckungen ringt, sie ist gefunden!) Der
Reichskanzler Graf Lannas weiß, dass die Zeit der adeligen Herren bald erfüllt
ist, und denkt darüber wie seine ehrgeizig-kluge, aber mnerlich immer un¬
sicherer werdende Tochter, die einmal sagt: „Mein Gott, wie lange dauern wir
noch, inzwischen nimmt jeder noch schnell das seine. Wenn er nur an der
Macht bleibt! — alles andere sei dahingesteilt. Aber um an der Macht zu
bleiben, muss er einmal auch den Ernstfall wagen: Wilhelm II. Tanger-Fahrt.
Der Erfolg bringt ihm den Fürstentitel (Anklang an die Kanzlerschaft des
Fürsten Bülow), aber da er sich klüger denn alle dünkt und gar zu feine Ränke
schmiedet, fällt er, von allen Seiten verraten, dem „Novembersturm“ 1908, der
gegen Wilhelms höchst unbedachte, Europa schwer verstimmende Reden wütet,
zum Opfer (wieder ein Anklang an den Sturz des Fürsten Bülow). Der den
kulturbestrebten Astheten zuweilen gemimt hatte, dem nichts an der Macht
liege, er ruft jetzt, wütend über seinen Sturz und schmerzverzerrten Antlitzes:
„Nach mir kommt nichts. Ich war der Letzte, ich trug noch den Bau, ich allein.
Jetzt der Zusammenbruch. Dass sie eine Prophezeiung verstörten Ehrgeizes
sind, das hindert nicht, dass diese Worte eine schreckliche Wahrheit enthalten;
denn sein Nachfolger, sein Schwiegersohn von Tolleben, ist noch weniger der
Mann, welcher der schon übermächtigen Schwerindustrie Herr zu werden ver¬
möchte. Mag auch das deutsche sowohl als auch das französische Volk zugrunde
gehen, die verbündeten Kriegsindustrien werden bleiben und blühen. Terra
selbst ist es, Gehelmrat und Generaldirektor, der den vor letzten internationalen
Abmachungen zurückbebenden Knack drängt. Es ist in diesem Menschen eine
tiefe Fragwürdigkeit, eine unerhörte Scharlatanerie und Verschlagenheit. Lannas
fand einmal dafür ein Wort zweideutigster Ironie: „Die Ziele des Geistes sind
Ihre Sache nicht weniger als das Wesen der Dinge“; ein anderer spricht ein¬
deutiger von seinem „zynischen Spieltrieb“. Nachdem er die geheimen Ver¬
träge zwischen der deutschen und französischen Kriegsindustrie durchgesetzt
hat, reist er nach Paris und verrät die Machenschaften einem französischen
Sozialisten: es scheint Jaurés selbst zu sein, mit dem er eine Nacht lang spricht
und vor dessen überragender Gestalt ihn doch etwas wie Grauen vor seinem
Leben und Tun überkommt. Er glaubt Weltschmerz fühlen zu dürfen, als er
dem andern in den grauenden Morgenstunden beichtet: „Sie haben mich Welt¬
frömmigkeit sehen lassen. Ich kenne nur Intellektuelle ohne Weltfrömmigkeit.
Ihr wisst nicht, wie trostlos das Leben sein muss, in dem sie gedeihen. Indes
der Franzose ihm Mut zuredet, glaubt er sich und ihm einreden zu dürfen, er
habe der Macht nur gedient, um sie um so besser verraten zu können, — wofür
er schliesslich von der Macht wieder auf die Straße gesetzt wird. Ist er ein
Narr und Opfer des Intellektualismus? Ist er ein Zyniker des Intellektualismus
Indem er bald das eine, bald das andere zu sein glaubt, ist er wohl beides zu¬
gleich. (Sein Sohn freilich, das Kind seiner Jugendliebe zu jener Abenteurerin,
geht schon den ganz geraden Weg des kahlsten Zynismus, er ist schon ganz der
voraussetzungslose, heldische Schieberjüngling unserer Tage.) Mangolfs Weg
770
6 e e e
box 5/1
den Mythos vom
„Leben müssen nicht Menschen, sondern die Wirtschaft“, —
Moloch des zwanzigsten Jahrhunderts, vom neuen Gott, dem zu Ehren chorische
Hymnen zum Himmel steigen: „Kobesmythe! Die neue Religion, nach der
unser ganzer Erdteil in furchtbaren Zuckungen ringt, sie ist gefunden!) Der
Reichskanzler Graf Lannas weiß, dass die Zeit der adeligen Herren bald erfüllt
ist, und denkt darüber wie seine ehrgeizig-kluge, aber mnerlich immer un¬
sicherer werdende Tochter, die einmal sagt: „Mein Gott, wie lange dauern wir
noch, inzwischen nimmt jeder noch schnell das seine. Wenn er nur an der
Macht bleibt! — alles andere sei dahingesteilt. Aber um an der Macht zu
bleiben, muss er einmal auch den Ernstfall wagen: Wilhelm II. Tanger-Fahrt.
Der Erfolg bringt ihm den Fürstentitel (Anklang an die Kanzlerschaft des
Fürsten Bülow), aber da er sich klüger denn alle dünkt und gar zu feine Ränke
schmiedet, fällt er, von allen Seiten verraten, dem „Novembersturm“ 1908, der
gegen Wilhelms höchst unbedachte, Europa schwer verstimmende Reden wütet,
zum Opfer (wieder ein Anklang an den Sturz des Fürsten Bülow). Der den
kulturbestrebten Astheten zuweilen gemimt hatte, dem nichts an der Macht
liege, er ruft jetzt, wütend über seinen Sturz und schmerzverzerrten Antlitzes:
„Nach mir kommt nichts. Ich war der Letzte, ich trug noch den Bau, ich allein.
Jetzt der Zusammenbruch. Dass sie eine Prophezeiung verstörten Ehrgeizes
sind, das hindert nicht, dass diese Worte eine schreckliche Wahrheit enthalten;
denn sein Nachfolger, sein Schwiegersohn von Tolleben, ist noch weniger der
Mann, welcher der schon übermächtigen Schwerindustrie Herr zu werden ver¬
möchte. Mag auch das deutsche sowohl als auch das französische Volk zugrunde
gehen, die verbündeten Kriegsindustrien werden bleiben und blühen. Terra
selbst ist es, Gehelmrat und Generaldirektor, der den vor letzten internationalen
Abmachungen zurückbebenden Knack drängt. Es ist in diesem Menschen eine
tiefe Fragwürdigkeit, eine unerhörte Scharlatanerie und Verschlagenheit. Lannas
fand einmal dafür ein Wort zweideutigster Ironie: „Die Ziele des Geistes sind
Ihre Sache nicht weniger als das Wesen der Dinge“; ein anderer spricht ein¬
deutiger von seinem „zynischen Spieltrieb“. Nachdem er die geheimen Ver¬
träge zwischen der deutschen und französischen Kriegsindustrie durchgesetzt
hat, reist er nach Paris und verrät die Machenschaften einem französischen
Sozialisten: es scheint Jaurés selbst zu sein, mit dem er eine Nacht lang spricht
und vor dessen überragender Gestalt ihn doch etwas wie Grauen vor seinem
Leben und Tun überkommt. Er glaubt Weltschmerz fühlen zu dürfen, als er
dem andern in den grauenden Morgenstunden beichtet: „Sie haben mich Welt¬
frömmigkeit sehen lassen. Ich kenne nur Intellektuelle ohne Weltfrömmigkeit.
Ihr wisst nicht, wie trostlos das Leben sein muss, in dem sie gedeihen. Indes
der Franzose ihm Mut zuredet, glaubt er sich und ihm einreden zu dürfen, er
habe der Macht nur gedient, um sie um so besser verraten zu können, — wofür
er schliesslich von der Macht wieder auf die Straße gesetzt wird. Ist er ein
Narr und Opfer des Intellektualismus? Ist er ein Zyniker des Intellektualismus
Indem er bald das eine, bald das andere zu sein glaubt, ist er wohl beides zu¬
gleich. (Sein Sohn freilich, das Kind seiner Jugendliebe zu jener Abenteurerin,
geht schon den ganz geraden Weg des kahlsten Zynismus, er ist schon ganz der
voraussetzungslose, heldische Schieberjüngling unserer Tage.) Mangolfs Weg
770