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31. Fraeulein ElIse
604
Geschichte der Medizin.
Nr. 19.
zückung das Wesen erkannt haben, durch dessen
die Arzte, doch gehört wohl dieser Typ des Arztes
feurige Umarmung sie Mütter wurden. Und trotz¬
dem 10. Jahrhundert und auch Hauptmann
dem gilt die uralte heilige Sage aller Völker von
wird wissen, wie sehr die „Seele“ heute den Arzt
der unbefleckten Empfängnis als höchstes Insel¬
oft mehr als der Körper beschäftigt. Thomas
gesetz. Hauptmann kennt zweifellos die Werke
Mann spricht das in seinem „Zauberberg“ deut¬
Wundts und Freuds über das „Tabu“ und ge¬
lich aus, zu dessen inselhafter Einsamkeit wir uns
braucht auch dieses Wort für dies fast unweib¬
jetzt von der Ile des Dames fort wenden wollen.
lich scheinende Stillschweigen. „La recherche de
In der Höhenluft von Davos, fern vom unbe¬
la paternité est interdite. Dieser Grundsatz wurde
greiflich gewordenen „Flachland“, wo man nicht
noch immer aufrecht erhalten. Und ob nun
einmal weiß, wie man zuf Liegekur die Decke
Mukalinda oder wie immer auch sonst von Göttern
doppelt umwirft und mit der „Quecksilberzigarre“
im Munde sich der Kur hingibt — in der von
oder Heroen im Spiele war, es würde nicht leicht
gewesen sein, sie aufzufinden und nun gar in einer
Stubenschreien und Hustenstößen erschütterten
Luft des Bergsanatoriums, worder Chefarzt den
so heiklen Sache zu überführen. — Schon lange
vor Ablauf des zweiten Jahres nach Bihari Läls
Pneumothorax anlegt und bei Röntgenuntersuchung
im kühlen Kellerzimmer das Urteil über Leben
Geburt war der Gedanke der übernatürlichen
Zeugung in seinem beglückenden und erheben¬
und Tod spricht und wo der Assistenzarzt „mit
der schleghtän Chaussure“ die Seelen zergliedert
den Werte erkannt und zum unantastbaren, weil
und heikle Themen vor den Kranken behandelt,
alleinseligmachenden Dogma erhoben worden.
deren schwüle Erotik durch die Giftstoffe ihrer
So war es recht, denn der Geist und das Auf¬
Krankheit so oft erregt und übererregt wird — in
blühen von Ville des Dames sprachen unwider¬
diese Insel, die keinen Zeitbegriff kennt, deren
leglich für seine Richtigkeit. Ubrigens würde
Bewohnern „drei Wochen wie ein Tag sind“, führt
man es auch dann geglaubt und nicht im ge¬
der Dichter den Hamburger Flachlandsohn Hans
ringsten bezweifelt haben, wenn man diese und
Castorp. „Auf drei Wochen“ zum Besuch des
jene der Insulanerinnen in flagranti mit einem
Manne ertappt hätte. Das Dogma hatte sich
kranken Vetters und zur Erholung nach leichter
Erkältung. Aus der Erkältung wird „die feuchte
durchgesetzt, und es blieb vergeblich, daran zu
rütteln.“ Und wie Phaon heranwächst bemerkt
Stelle“ und Diagnose einer Tuberkulose, da die
erhöhte Körpertemperatur erst spät sich als „endo¬
eine der „regierenden“ Frauen (die als einzige der
krin“ und manchmal auch seelisch begründet ent¬
Führerinnen auch dem Inselschicksal verfällt):
sieben Jahre.
„Nach meiner Erfahrung haben alle Kolonistinnen
puppt und aus den drei Wochen —
Phaon, das Kind unserer Kolonie, für tabu erklärt.
Erst der Krieg reißt den längst fachlandsbefähigten
Raummangel verbietet es auf diese recht inter¬
Mann aus dieser Insel der Verzauberung, wo eine
essante Tabu-Erklärung näher einzugehen.
weibliche Haut, die der Hofrat so naturgetreu
gemalt, es ihm angetan, wo in einer Faschings¬
Es kommt dann beim Alterwerden der Kinder
nacht er der Aufforderung nachkam: Noublier
zu einer Befestigung des Matriachats, zur Depor¬
pas de me rendre mon crayon.“ Derselbe Hans
tation der Knaben „nach Wildermannland“ von
Castorp, der mit Abscheu und Entsetzen am
wo die den Schluß des Buches bildende Revolution
gegen die weibliche Vorherrschaft einsetzt, die
ersten Sanatoriumsmorgen bei dünnen Wänden
die Nachbarschaft des russischen Ehepaars be¬
das Banner „Mann“ aufpflanzt und sozusagen dem
merkte, „deren Spiel in das Tierische überging“.
natürlichen Phalluskult zum Durchbruch verhilft.
Vorher spielt aber noch eine medizinisch inter¬
Ja, Clawdia Chauchat aß auch am guten Russen¬
essante Episode. Die „Mütter“ besuchen die
tisch, nicht wie das Nachbarpaar am schlechten.
Knabenkolonie und eine Mutter erkennt ihren
Und doch blieb unser Hans Castorp auch und
Knaben, herzt und küßt ihn wild zum Entsetzen
wie Madame Chauchat ging und mit einem alten
der „orthodoxen“ Frauen und besonders der Arztin,
Brummbär zurückkam und nach dessen Tode
die den Muttertitel nur „honoris causa“ führt.
wieder ging. Wäre der Krieg nicht gekommen,
Hauptmann überschreibt diese eine Seite
er wäre heute noch im Banne dieser einlullenden
„medizinische Gildenmoral“: „Ihre Mentalität mußte
medizinischen Atmosphäre, trotzdem auch er am
ja auch eine ganz andere sein, da ihr Blick ja
schlechten Russentische landete und der Vetter,
überwiegend mit sowohl qualvollen als blutigen
den er besucht hatte, den kurzen Offizierstraum
längst mit der tödlichen Laryngitis hatte büßen
körperlichen Vorgängen zu tun hatte und ihr der
Eingriff mittels scharfer Instrumente in das lebendig
müssen. Diese Psyche eines Menschen, der sich
nicht losreißen kann vom Banne einer bis in die
zuckende Leben alltäglich war. Auch war ihre
Moral mit dem Eintritt in die medizinische Gilde
kleinste Einzelheit geregelte Kur, von der Kranken¬
in der Moral dieser Gilde untergegangen. Sie
hausluft, der in seiner Unselbständigkeit dem Typ
trotz hoher Intelli¬
ward beherrscht von der kalten nüchternen medi¬
eines infantilen Hysterikers
zinischen Gildenmoral, die einmal das Vorhanden
— gleicht, hat uns der Dichter in viclen
genz
sein der menschlichen Seele auf Grund der Tat¬
Exemplaren mit Meistergriffel gezeichnet. Auch
die ganze Einstellung vom Leben und Sterben
sache bezweifelte, daß ihr noch bei keiner Obduktion
und Sektion etwas wie eine Seele unter das
der Kranken untereinander ist lebenswahr und
Seziermesser gekommen sei.“ So sicht der Dichter
plastisch geschildert. Ein ärztlicher Kritiker,
31. Fraeulein ElIse
604
Geschichte der Medizin.
Nr. 19.
zückung das Wesen erkannt haben, durch dessen
die Arzte, doch gehört wohl dieser Typ des Arztes
feurige Umarmung sie Mütter wurden. Und trotz¬
dem 10. Jahrhundert und auch Hauptmann
dem gilt die uralte heilige Sage aller Völker von
wird wissen, wie sehr die „Seele“ heute den Arzt
der unbefleckten Empfängnis als höchstes Insel¬
oft mehr als der Körper beschäftigt. Thomas
gesetz. Hauptmann kennt zweifellos die Werke
Mann spricht das in seinem „Zauberberg“ deut¬
Wundts und Freuds über das „Tabu“ und ge¬
lich aus, zu dessen inselhafter Einsamkeit wir uns
braucht auch dieses Wort für dies fast unweib¬
jetzt von der Ile des Dames fort wenden wollen.
lich scheinende Stillschweigen. „La recherche de
In der Höhenluft von Davos, fern vom unbe¬
la paternité est interdite. Dieser Grundsatz wurde
greiflich gewordenen „Flachland“, wo man nicht
noch immer aufrecht erhalten. Und ob nun
einmal weiß, wie man zuf Liegekur die Decke
Mukalinda oder wie immer auch sonst von Göttern
doppelt umwirft und mit der „Quecksilberzigarre“
im Munde sich der Kur hingibt — in der von
oder Heroen im Spiele war, es würde nicht leicht
gewesen sein, sie aufzufinden und nun gar in einer
Stubenschreien und Hustenstößen erschütterten
Luft des Bergsanatoriums, worder Chefarzt den
so heiklen Sache zu überführen. — Schon lange
vor Ablauf des zweiten Jahres nach Bihari Läls
Pneumothorax anlegt und bei Röntgenuntersuchung
im kühlen Kellerzimmer das Urteil über Leben
Geburt war der Gedanke der übernatürlichen
Zeugung in seinem beglückenden und erheben¬
und Tod spricht und wo der Assistenzarzt „mit
der schleghtän Chaussure“ die Seelen zergliedert
den Werte erkannt und zum unantastbaren, weil
und heikle Themen vor den Kranken behandelt,
alleinseligmachenden Dogma erhoben worden.
deren schwüle Erotik durch die Giftstoffe ihrer
So war es recht, denn der Geist und das Auf¬
Krankheit so oft erregt und übererregt wird — in
blühen von Ville des Dames sprachen unwider¬
diese Insel, die keinen Zeitbegriff kennt, deren
leglich für seine Richtigkeit. Ubrigens würde
Bewohnern „drei Wochen wie ein Tag sind“, führt
man es auch dann geglaubt und nicht im ge¬
der Dichter den Hamburger Flachlandsohn Hans
ringsten bezweifelt haben, wenn man diese und
Castorp. „Auf drei Wochen“ zum Besuch des
jene der Insulanerinnen in flagranti mit einem
Manne ertappt hätte. Das Dogma hatte sich
kranken Vetters und zur Erholung nach leichter
Erkältung. Aus der Erkältung wird „die feuchte
durchgesetzt, und es blieb vergeblich, daran zu
rütteln.“ Und wie Phaon heranwächst bemerkt
Stelle“ und Diagnose einer Tuberkulose, da die
erhöhte Körpertemperatur erst spät sich als „endo¬
eine der „regierenden“ Frauen (die als einzige der
krin“ und manchmal auch seelisch begründet ent¬
Führerinnen auch dem Inselschicksal verfällt):
sieben Jahre.
„Nach meiner Erfahrung haben alle Kolonistinnen
puppt und aus den drei Wochen —
Phaon, das Kind unserer Kolonie, für tabu erklärt.
Erst der Krieg reißt den längst fachlandsbefähigten
Raummangel verbietet es auf diese recht inter¬
Mann aus dieser Insel der Verzauberung, wo eine
essante Tabu-Erklärung näher einzugehen.
weibliche Haut, die der Hofrat so naturgetreu
gemalt, es ihm angetan, wo in einer Faschings¬
Es kommt dann beim Alterwerden der Kinder
nacht er der Aufforderung nachkam: Noublier
zu einer Befestigung des Matriachats, zur Depor¬
pas de me rendre mon crayon.“ Derselbe Hans
tation der Knaben „nach Wildermannland“ von
Castorp, der mit Abscheu und Entsetzen am
wo die den Schluß des Buches bildende Revolution
gegen die weibliche Vorherrschaft einsetzt, die
ersten Sanatoriumsmorgen bei dünnen Wänden
die Nachbarschaft des russischen Ehepaars be¬
das Banner „Mann“ aufpflanzt und sozusagen dem
merkte, „deren Spiel in das Tierische überging“.
natürlichen Phalluskult zum Durchbruch verhilft.
Vorher spielt aber noch eine medizinisch inter¬
Ja, Clawdia Chauchat aß auch am guten Russen¬
essante Episode. Die „Mütter“ besuchen die
tisch, nicht wie das Nachbarpaar am schlechten.
Knabenkolonie und eine Mutter erkennt ihren
Und doch blieb unser Hans Castorp auch und
Knaben, herzt und küßt ihn wild zum Entsetzen
wie Madame Chauchat ging und mit einem alten
der „orthodoxen“ Frauen und besonders der Arztin,
Brummbär zurückkam und nach dessen Tode
die den Muttertitel nur „honoris causa“ führt.
wieder ging. Wäre der Krieg nicht gekommen,
Hauptmann überschreibt diese eine Seite
er wäre heute noch im Banne dieser einlullenden
„medizinische Gildenmoral“: „Ihre Mentalität mußte
medizinischen Atmosphäre, trotzdem auch er am
ja auch eine ganz andere sein, da ihr Blick ja
schlechten Russentische landete und der Vetter,
überwiegend mit sowohl qualvollen als blutigen
den er besucht hatte, den kurzen Offizierstraum
längst mit der tödlichen Laryngitis hatte büßen
körperlichen Vorgängen zu tun hatte und ihr der
Eingriff mittels scharfer Instrumente in das lebendig
müssen. Diese Psyche eines Menschen, der sich
nicht losreißen kann vom Banne einer bis in die
zuckende Leben alltäglich war. Auch war ihre
Moral mit dem Eintritt in die medizinische Gilde
kleinste Einzelheit geregelte Kur, von der Kranken¬
in der Moral dieser Gilde untergegangen. Sie
hausluft, der in seiner Unselbständigkeit dem Typ
trotz hoher Intelli¬
ward beherrscht von der kalten nüchternen medi¬
eines infantilen Hysterikers
zinischen Gildenmoral, die einmal das Vorhanden
— gleicht, hat uns der Dichter in viclen
genz
sein der menschlichen Seele auf Grund der Tat¬
Exemplaren mit Meistergriffel gezeichnet. Auch
die ganze Einstellung vom Leben und Sterben
sache bezweifelte, daß ihr noch bei keiner Obduktion
und Sektion etwas wie eine Seele unter das
der Kranken untereinander ist lebenswahr und
Seziermesser gekommen sei.“ So sicht der Dichter
plastisch geschildert. Ein ärztlicher Kritiker,