I, Erzählende Schriften 31, Fräulein Else, Seite 57

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Nr. 19.
Geschichte der Medizin.
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der alles dieses anerkennt, hat geglaubt, von
Liebe als krankheitsbildende Macht gerade am
seinem Standpunkt als Tuberkuloseheilstättenarzt
letzten Montag auf die Fallsucht zu reden ge¬
(Schelenz, Deutsch. Med. Wochenschr. 1025,
kommen und hatte dieses Leiden, worin die
Nr. 20) Protest einlegen zu müssen gegen die
Menschheit in voranalytischen Zeiten abwechselnd
Charakterisierung einer Krankenschwester („Eine
eine heilige, ja prophetische Heimsuchung und
Krankenschwester zeigte sich irgendwo, in weißer
eine Teufelsbesessenheit gesehen, mit halb poeti¬
Haube und einem Zwicker auf der Nase, dessen
schen, halb unerbittlich wissenschaftlichen Worten
Schnur sie sich hinter das Ohr gelegt hatte.
als Aquivalent der Liebe und Orgasmus des Ge¬
Offenbar war sie protestantischer Konfession, ohne
hirns angesprochen, kurz es in einem solchen
rechte Hingabe an ihren Beruf, neugierig und von
Sinne verdächtigt, daß seine Zuhörer die Auf¬
Langeweile beunruhigt und belastet“) und der
führung des Lehrers Popow, diese Illustration
Sanatoriumsärzte. Er fürchtet, daß die Lektüre
des Vortrags, als wüste Offenbarung und myste¬
gerade solcher Stellen von vielen gelesen würden,
riösen Skandal verstehen mußten, so daß denn
die die tiefen philosophischen und geschichts
auch in dem verhüllten Entfliehen der Damen
wissenschaftlichen Stellen des Buches überblättern
eine gewisse Schamhaftigkeit sich ausdrückte.“
und einen ganz falschen Eindruck vom Sanatoriums¬
Verlassen wir jetzt diesen Zauberberg mit seinen
leben dadurch gewinnen würden. Ja, ist denn
so psychoanalytisch sich bildenden Kranken und
ein solches Buch eine moralische Tendenzlektüre?
fliegen rasch zu einem Dichter der Stadt, wo
Darf uns der Dichter nicht den Eindruck über¬
diese Zergliederung unserer Triebe entstand, dem
mitteln, den er nun mal von den Dingen hat?!)
WViener Arztdichter Schnitzler. In seiner kleinen
Allen gesunden Realismus in Ehren, ohne Sub¬
Erzählung „Fräulein Else“ hat er die Ereignisse
jektivität gäbe es nirgends eine wahre Kunst!
eines Tages in der atembeklemmenden Hast und
Ein noch so naturalistisches Gemälde darf keine
loch souveränen Objektivität geschildert, die eine
Photographie sein oder vortäuschen wollen! Für
seiner Jugendnovellen, Leutnant Guxtl, schon aus¬
uns Arzte besonders interessant ist die Sucht,
zeichnete. Und diese Ereignisse sind wohl wert,
mit der Hans Castorp sich in die Wissenschaft
den Arzt und Psychologen zu fesseln. Ein junges,
der Biologie, Anatomie, Physiologie und sogar
gerade aufgeblühtes Weib soll den bankerotten
der Pathologie hineinversenkt, eine Sucht, die ihre
Vater retten, Tausende von Kronen erbetteln von
erotische Atiologie nicht verleugnet. Man braucht
einem „Freunde“ des Vaters. Dieser will die
nicht Psychoanalytiker strengster Observanz zu
Summe geben und stellt nur eine Gegenbedingung,
sein, um doch zu wissen, wie stark der Drang
die ihm als erotischen, halb senilen Lüstling er¬
nach dem Wissen alles körperlichen Geschehens
kennen läßt: er will sie „sehen“. Und nun be¬
manche jungen Menschen zum Studium dieser
ginnt der Widerstreit zwischen Scham und Trieb,
Dinge aus mehr oder weniger bewußt sexuell be¬
zwischen Konvention und Gefühlen in dem armen
tonten Vorstellungen heraus geführt hat! Recht
Mädchen, dessen Konflikte durch unerwiderte Liebe
eigenartig und wohl nur von der Hysterielehre
zu einem ärztlichen Vetter noch gesteigert werden.
der Modernen aus überhaupt zu verstehen ist die
Im Mona Vanna-Mantel taumelt sie durch die
Einstellung des Dichters zur Krankheit als solcher,
Gesellschaftsräume des Hotels in San Martino di
die für ihn etwas letzten Endes Unmoralisches
Castrozza, „der Zauberburg“ und fällt in Ohnmacht,
bedeutet:
und unterdessen hatten längst die
als der Mantel auseinander fällt. Nun kommt

löslichen Bakteriengifte die Nervenzentren be¬
eine unbeschreiblich großartige Schilderung, wie
rauscht, der Organismus stand in Höchsttemperatur,
sie alles hört in diesem Zustande, nicht sprechen
mit wogendem Busen, sozusagen, taumelte er
kann und erst in einem unbewachten Moment
seiner Auflösung entgegen. So weit die Pathologie,
den Arm ausstrecken kann zum längst bereit ge¬
die Lehre von der Krankheit, der Schmerzbetonung
stellten Veronal, das ihr den Flug ins Glück vor¬
des Körpers, die aber, als Betonung des Körper¬
taumelt und zum Tode führt, dem einzigen Aus¬
lichen, zugleich eine Lustbetonung war, — Krank¬
weg, den sie aus dem Wuste des Geschehens
heit war die unzüchtige Form des Lebens.“ Und
fand. — Nicht das „was“ ist das Schöne an dieser
bewußt oder versehentlich wird der epileptische
Geschichte, nur das „wie“: Cest le ton qui fait
Anfall mit dem hysterischen gleichgestellt. „Es
la musique.
trug aber der ganze Vorfall (ein Anfall bei der
Und solange es solche Kenner der mensch¬
Mittagstafel) ein eigentümliches und außer seiner
lichen Seele unter uns Arzten gibt, braucht uns
Entsetzlichkeit auch anstößiges Tonzeichen, und
nicht bange zu sein vor den spitzen Pfeilen, die
zwar vermöge einer allgemein sich aufdrängenden
der „Rabelais unserer Zeit“, Bernhard Shaw
Ideenverbindung, die an den jüngsten Vortrag
Dr. Krokowskis anknüpfte. Der Analytiker
die „heilige Johanna“ gibt dem Dichter die Mög¬
war nämlich bei seinen Ausführungen über die
ichkeit, den finsteren Aberglauben des tiefsten
Mittelalters religiösen Dingen gegenüber der neu¬
1) Anmerkung während der Korrektur: Ich freue mich, in
zeitlichen Leichtgläubigkeit in medizinisch-hygieni¬
der Voss. Ztg. vom 5. Juli 25 dieselbe Ansicht von Helmut
schen Dingen gegenüberzustellen. (Auch die sehr
Seckel zu lesen, der mit Recht darauf hinweist, wie auch in
materialistische Erklärung für Johannas Visionen
anderen Werken von Thomas Mann medizinisch-biologische
ist ärztlich interessant.) „Unsere Leichtgläubigkeit
Gedankengänge zum künstlerischen Ausdruck kommen.