I, Erzählende Schriften 31, Fräulein Else, Seite 85

31. Fraeulein Else

Berliner Lokal-Anzeiger
8 feb #n##
Arthur Schnitzler-Abend.
Elisabeth Bergner und der Autor am
Vortragstisch.
Der Verband deutscher Erzähler
konnte seinen Gästen ein „Plenum“ vorführen,
wie es im Reichstag sonst gerade nicht die Regel
ist. Regierung, Politik. Kunst und Literatur
alle Prominenten waren da.
Erst las Elisabeth Bergne: „Fräulein
Else“. Die Rovelle ist ja, bei aller künstlerischen
Vollendung Schnitzlerscher Erzählungskunst, die
uns bei wirksamster Steigerung in atemloser
innerer Spannung hält bis zur Katastrophe, bei
all seiner Meisterschaft, die verborgensten Regun¬
gen dee Herzens zu analysieren und den Irrwegen
der menschlichen Seele verständnisvoll nachzu¬
gehen, innerlich unwahrscheinlich. Die arme,
törichte Else ist ein Kind jener angefaulten Wie¬
ner Gesellschaft der Vorkriegszeit, deren weiche
Sinnlichkeit und Sier nach Genuß durch die auch
schon brüchig gewordene altfränkische Vornehm¬
heit nicht mehr gezügelt wird. Sie hat schon
längst einen Bsick bekommen für das Häßliche im
Leben. So ist es psychologisch nicht begründet,
wenn die brutale Lebensklugheit ihres Ver¬
derbeis: Alles im Leben hat seinen Preis — sie
in den Bad treibt, zumal ihre Mädchenehre durch
das Opfer für den Vater im strengsten Sinne gar
nicht angetastet ist. Aber Elisabeth Berg¬
ners geniale Vortragskunst ließ keine Zeit zum
kritischen Reflektieren. Sie machte die Novelle
zum Drama, gab der Heldin Blut und Leben.
Beifall, der gar nicht enden wollte, eine Fülle von
Blumen.
Dann las Arthur Schnitzler selbst seinen
„Leutnant Gustl“, die Geschichte von dem kleinen,
eichtsinnigen und doch so liebenswürdigen Offi¬
zier, der glaubt, sich den Tod geben zu müssen,
der alle Bitterkeiten des Sterbens „ehe die neuen
Veilchen blühen“ durchkostet, bis ihn die Öster¬
botschaft rettet, daß der, der seine Ehre in Hän¬
den hielt, nicht mehr lebt. — Ganz Schnitzler:
Stimmungsmalerei, die mit nachsichtigem Alles¬
verstehen gemischte Ironie, die atemraubende
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Spannung bis zur Lösung des Knotens. — Der
F. R.
Abend war ein Ereignis.
Yossische Zeitung, Berlin
8 Feb. 4926
Schnitzler-Abend
Verband Deutscher Erzähler
Vollwichtige Dichter= und Künstlernamen übten gestern eine große
Anziehungskraft aus, als Arthur Schnitzler am 5. Dichter¬
abend des Deutschen Erzählerverbandes im Reichstagssaale erschien
und Elisobeth Bergner sich ihm beigesellte, um durch den Neiz
der Persänlichkeit die Intimität seiner=Dichtung, die längst in den¬
Gemütern Wurzeln schlug, zu verstärken. Das Publikum drängte
sich durch das Portal des Prachtgebäudes, und der Verbands¬
obmann Georg Engel konnte in seinen warmen Einleitungs¬
worten ein wahrhaft volles Haus, eine imponierend „große Koali¬
tion“ willkommen heißen. Alle Augen richteten sich alsbald auf die
graziöse, lichte Gestalt, die im verdunkelten Saalz auf dem Prä¬
sidentensitz erschien, auf den Liebling des Publikums, der im Lichte
einer grüngedämpften Lampe, in feierliches Weiß gehüllt, über der
Menge zu schweben schien, auf Elisabeth Bergner, die Schnitzlers
Novelle „Fräulein Else“ vortrug. Als ihre seinen Züge sich be¬
lebten und sie mit zarter, lichter Stimme begann, zeigte sich an¬
sangs, daß sie mit dem Podium des Vortragssaales noch nicht so
vertraut ist, wie mit dem des Theaters; sie setzte etwag zu leise ein
und ihre Stimme trug das Wort nicht in alle Teile des Hauses,
dessen Akustik mehr für den eindringlichen Gesinnungsausdruck
als für die weiche Gefühlswelt des Dichters geeignet ist. Aber
je mehr sich die Bergner in das Seelengemälde Schnitzlers ver¬
senkte, je mehr die Hauptgestalt des Dichters in ihrer naiven An¬
mut hervordrang, der dramatische Konflikt eines naiven Mädchen¬
herzens die Herrschaft gewann, desto farbiger und eindrucksvoller
wurde der Ton der Sprecherin, desto sieghafter trat ihre innerliche
Natur, die alles mitlebt, zutage. Atemlose Stille begleitete das
Bild der Bedrängnis, das sich in echten Lauten, sparsamen Gesten
und im zarten Mienenspiel zusammendrängte; die Tragik des
Schicksals offenharte sich im Phantasiespiel der Sterbenden mit
ergreifender Einfachheit, und der Beden des Volkshauses erdröhnte
schließlich in einem stürmischen, nicht endenwollenden Beifall, der
aus den Gemütern kam.
In dem wiedererleuchteten Saal des Reichstages erschien
nach kurzer Pause, Fürmisch begrüßt, Arthur Schnitzler am Rede¬
pult, um Aug in Auge, Mann gegen Mann seine männlich: No¬
nelle „Leutnant Gustl“ die man der Form und dem Inhalt nach
ein wahrhaftiges Monodrama nennen könnte, vorzutragen. Der
Dichter, der äußerlich etwas stämmiger geworden, aber die volle
Jugend des Wesens bewahrt hat, sproch ungemein objektiv, sachlich,
episch. Ein Rezitator hätte vielleicht die Lichter der Satire und
Ironie in dieser wahrhaftigen Geschichte, die den brutalen, von
Humanität und Altruismus losgelösten Militarismus wahrhaftig
darstellt, stärker und absichtlicher hervorblitzen lassen. Aber Schnitz¬
ler sprach im echten Autorton, der in keinem Zuge über Bescheiden¬
heit der Natur und wahrhaftige Dichterintention hinausgeht. Die
Wirkung wurde daduech um so echter und reiner und trat schlie߬
lich im tobenden Bersall, in den der Dank für das Gesamtwirken
des Autors hineinklang, zutage. Die entgegenkommende, be¬
geisterte Anteilnahme der Persammlung paßte in das stimmende
Lokale hinein; sie war ein starker Ausdruck der Gefühle des
„Deutsch=österreichischen Volksbundes“ an dessen Spitze bekannt¬
lich auch der Präsident des Reichstages steht; treffend hatte Georz
Engel in den Begrüßungsworten herausgehoben, daß Arthur
Schnitzler für uns der Typus des geistigen und literarischen, des
echt nationalen und von Melancholie überschatteten deutsch=öster¬
K
reichischen Volkstums geworden ist.