I, Erzählende Schriften 31, Fräulein Else, Seite 86

31. Fraeulein Else

B.-Z. am Mittag, Berlin
Schnitzler-Bergne
am Vortragslisch
Ein #bend i Reichstag
Das Haus war beschlußfähig, der Reichstag
war ausverkauft, eine ganz große Koalition be¬
grüßte einstimmig die beiben Rebner vom sonn¬
täglichen Dichter=Abend, die Schauspielerin und
den Poeten. Arthur Schnigler galt die vom
Verband Deutscher Erzähler an diese
ungewöhnliche Stätte verpflanzte Veranstaltung
der Klilebeth Bergner ihre Mitwirkung ver¬
sprechen hatte und der Dichter gleichfalls.
Georg Engel, der Vorsitzende des Verbandes,
begrüßte die beiden erlesenen Vorleser verbind¬
lich, dankbar und feierlich, die in silbriges Weiß
chlicht gekleidete, kindlich schlanke Bergner, den
graubärtigen Wiener Dichter. Beide erklärte
Lieblinge Berlins.
Bei der grünbeschirmten Lampe nimmt die
Bercner Platz, und beginnt aus dem gar nicht
Rinnleibigen Buch zu lesen, der Monolognovelle
„Fräulein Else“ in der eine arme kleine, un¬
elige Märchenseole einen bitteren Kampf aus¬
sicht bis sie sich schwer und zögernd zum Ab¬
In diesem
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#chied von der Welt' entschließt.
Wiener Mädel aus guter Familie, das frivol
ist und genußssichtig, weltgewandt und zynisch,
steckt eine reine, unbedingte, beinahe erhabene
Unschult. Sie nimmt Veronal, weil sie über¬
reizt, von Sinnen gebracht durch das Verlangen
eines älteren reichen Lehemanns, sich ihm nackt
zu zeigen, in seldstzerstörerischem Trotz diese un¬
erhörte Bedingung, die er gestellt hat, um ihren
Vater zu retten, vor der im Musikzimmer ver¬
sammelten Gesellschaft des Alpenhotels erfüllt.
Mit ihrer, manchmal wie von hellem Flor
verhangenen, klaren Stimme, einfach, ruhig,
sachlich, beinahe referierend, den Abstand zwischen
Bühne und Podium in unbeirrbarer Sicherheit
sesthaltend, las die Bergner die stark gekürzte
und darum mancher unwägbaren aber sehr wich¬
tigen psychologischen Uebergänge beraubte Novelle
vor. Die jähen Stimmungswechsel der armen
gequälten Kreatur, die einen Ausweg sucht und
ihn nicht finden kann, hofft, fürchtet, zagt, bangt,
verzweifelt und schließlich unterliegt, hätte viel¬
leicht keine Andere so selbstverständlich glaubhaft,
so überzeugend naturnah bringen können. Und
so fern jeder Maske und Ueberspitzung. Wenn
man sich die letzte Stufe der seelischen Spannung
vor der Latastrophe, vor dem gewaltsamen Riß
der Nerven, dramatisch hinaufgesteigerter hätte
vorstellen können, so entschädigte dafür die wun¬
dervolle kristallene, befreiende Durchsichtigkeit des
Hinübergleitens ins Unbewußte, in die endliche
Erlösung.
Der Dichter las dann selbst noch eine ältere
Arbeit, die Novelle „Leutnant Gustel“, die in der
Romposition und im Aufbau mit dem neueren
Werk die kuriose Aehnlichkeit hat, die zu der
interessanten Gegenüh tellung beider den er¬
wünschten Anläß gegeben hat. Auch hier ein
Denkmonolog eines Wiener Kindes, auch hier
cheinen dem jungen Wesen alle Auswege abge
beschlossen
chnitten, und der Selbstmord ist
Sache.=Doch dem törichten Offizierlein bleibt da
Aeußerste erspart, er darf ins Leben zurück, wen
auch mit leicht beschädigter Leutnantsehre,
Arthur Schnitzler, ein sicher sehr oft scho
erprobter, untadeliger Vorleser, schuf die erstann
liche Charakterskizze, Mentalität des Vorkriegs
offiziers — die Arbeit ist vor 25 Jahren er
schienen - im Vortrag noch einmal nach mit al
den unbarmherzigen Ironien, die in Stoff uni
Darstellung köstlich verstreut sind.
Unnötig, zu verzeichnen, daß die beiden Korr,
phäen des Abends, die den sozialen Aufgaber
des Verbandes selbstlos gedient haben, reichster
E. M.
Beifall geradezu überschüttete.
Oberbürgermeister Böß und Frau Böß ver¬
anstalteten gestern abend im Anschluß an den
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vom Verband Deuischer Erzchlen arrangierten
Arthur Schnitzler=Abend in ihrem Hause zu
Ehrei Arthur Schnitzlurs einen Empfang. Ea
nahmen daran teit die Vorstandumitglieber des
Verbandes Deutscher Erzähler, Vertreter das
geistigen und literarischen Berlin. Man sal,
. a. österreichischen Gesendten Dr. Frank, den
des
Reichstagspräsidenten Döhe und Vertreter
der
deutschen Schriftums somie Mitglieber
Städtischen Verwaltung.
Deutsche Tageszeitung, Berlin
Feb. 1926
Arthur Schnitzler=Abend.
Arthur Schnitzler war der 5. Dichterabend des „Verbendes
deutscher Erzähler“ gewidmet. Der große Blenarsaal das
der
Reichstagsgebäudes freilich füllte sich wohl mehr zu Ehren
Elisabeth Bergner, die seine 1924 erschienene N
„Fraulein Else“ vorlas. Fräulein Beraner ist nach diesem
ersten Ve#such, dem mas mit Spannung entgegensah, gewiß nicht
als eine berufene Rezitatorin zu bezeichnen. Schon von der
Bühne her ist bekannt, daß ihre Stimme nur in der Mittellag
chön ist und auch keine Abwandlungsfähigkeit hat, in ihrem B
reich allerdings ungemein eindringlich ist; am stärksten wirkt si
durch ihre zahllosen Ausdrucksmittel im Glieder= und Mienenspiel.
Diese Mienen und Glieder waren während des Vortrags in
dauernden, nur mühsam gebändigten Aufruhr Sie mach
der Novelle eine lange Szenenreihe. Sie spielt: von Augenbli
zu Augenblick fesselnd. Dem Höhepunkt dieses an sich doch d
Werkes aber gab sie nicht mehr Nachdruck als jeder ander. Szeme¬
Sie spielte die (übrigens psychologisch recht anfechtbare) „E
o überzeugend, wie es ihre Fesselung an den Vortragstisch zu¬
ließ; an die anderen Personen erinnerte sie blos ganz von ferne.
Frau Bergner gehört also nur auf die Bühne, wo die Pa##ner#und
der Regisseur zur Verfügung sind. — Im zweiten Teile der
Abends las Schnitzler selbst seine Novelle „Loutnant
Gust!“ Ihre Abfassung liegt 25 Jahre zurück, und sie ist auch
um 25 Jahre pessimistischer, ungehobener, ungehobelter als „Fräu¬
lein Else“. Auch ist uns diese Verhöhnung des konpentionellen
Ehrbegriffs heute schon recht uninteressant gewerden Ber#
all und Hervorruf Schnitzlers war mehr „ehrenhalber“; der
Bergner aber wurde nach dem ersten Teil in anerkennender Be¬
wunderung zugeklatscht.