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31. Fraeulein Else
—
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autt
*
Berliner Volksblatt
Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutichlands
Morgen¬
Ub
Ausschmitt aus der Abends
vom
Ir
Dichterabend im Reichstag.
Sonntag war es und abends um acht, Dunkelheit und mächtige
Kälte lagen schon über der Stadt, für die Kinos, die Kabaretts, di
Theater war das wohl richtige Zeit, nicht aber für eine Reichstag
sitzung für den Ernst, für die Arbeit. Doch obwohl auf keinem her
Türme des Wallot =Baues die schwarzrotgoldene Fahne flatterte,
herrschte um die seltsame Stunde ein Andrang wie bei ganz großen
Tagen. Lange vor Beginn der Sitzung war der Saal überfullt.
Hunderte mußten stehen, feierlich waren die männlichen, festlich die
waiblichen Abgeordneten gekleidet. Georg Engel eröffnete die Sitzung,
u der der Verband deutscher Erzähler geladen hatte, begrüßte die
Erschienenen, die vielen Würdenträger unter ihnen und insbesondere
den Dichter Arther Schnitzler, mit ihm eine große Künstlerin,
die die Absicht habe, Kostbares von seinem Werk zu künden: Elisa¬
beth Bergner. Das war nun ein rührendes, unvergeßliches
Bild, wie die berühmte Schauspielerin; in dem Moment ein armes
Hascherl, zaghaft, bubiköpfig und mit märchenhaftem Silberweiß
behängt, auf dem Platz des deutschen Reichskanzlers hockte, neben ihr
der Wiener Dichter, sinnig saß er auf dem Platz des Außenministers.
Vom hochlehnigen respektablen Stuhl des Reichstagspräsidenten aus
sprach die Bergner mit knabenhaft klarer Stimme Schnitzlers No¬
velle „Fräulein Else“. Sie schuf sie neu, lebte sie vor, ließ
tausend Menschen miterleben, hatte eine Stunde der Gnade, wie sie
selbst den Größten nur selten geschenkt wird.
Nachdem das traurige Erlebnis von Fräulein Else, der Bürgerin
mit dem Godiva=Erlebnis, verklungen war, brach ein Beifallsdonner
los, auf allen Bänken, von der äußersten Rechten bis zur äußersten
Linken, wie er selbst in diesem oft lärmvollen Hause nur selten ge¬
hört werden wird. Der Dichter kam nunmehr selbst an die Reihe,
eine Vorlesung wirkte erfrischend, hell war es im Saal, heller auch
das Thema seiner Wahl, abschon es von keinem Selbstmord handelte,
vom niemals ausgeführter Selbstmord des k. k. „Leutnant
Gustl“ nämlich. Der Wiener Poet offenbarte bei dieser Gelegen¬
heite eine charmante Vortragskunst. Auch ihm jubelte man nicht
wenig zu, demonstrierte gern dabei auch für seiner Heimat politischen
Anschluß an die deutsche Republik; der österreichische Gesandte war
im Hause. Groß war dieses Abends Erlebnis.
Erich Gottgetreu.
Veriner Cagesah
9 Feb. 4926
Abend im Reichstag.
XX Der Reichstag war vollbesetzt, der Saal selber, die
Tribünen, die Estrade unter dem Präsidentensitz, und dort saßen
Männer und Frauen, die im Bädeker des Reiches, des Staates, der
Stadt und der Literatur ein oder zwei Sterne haben oder bean¬
spruchen.
Zwischen den riesigen Stuhl des Präsidenten und seinen Tisch schiebt
sich ein zartes Mädchen in Weiß, sicht sich scheu um, schlägt ein Buch
auf. Wird diese Stimme, wenn auch geschult und voll Gewöhnung an
ein großes Auditorium, wird sie diesen fremden und eckigen Raum
bezwingen? Leise klingt es an, aber glockenhaft klar, Tonperle auf
Perle. Der Zuschauerkreis bis in den fernsten Winkel hält äußerste
Stille. Das ist ein Zeichen, daß jeder alles versteht. Scheinbar nur
aus dem Flachlonde eines gewöhnlichen novellistischen Geschehens, so
beginnt Arthur SchnitzlerKFräulein Else“ aus Elisa¬
beth Bergners Munde hörbar zu werden. Dann zieht die Vor¬
leserin uns und die Geschichte immer näher an sich heran. Sie wird,
ohne laut zu werden, eindringlich. Sie spielt, ohne Theater zu machen.
die Gestalt. Sie begreift ganz das Dramatische dieses kleinen Epos,
aus dem eine Mädchenseele in den Tod hinein erblüht.
Das zarte Mädchen klappt das Auch zu, verschwindet wie ein weißes
Wölkchen vom hohen Göttersitz Löbes. Donnernder Beifall rollt ihr
nach, zwingt sie hervor, immaer wieder. Sie wundert sich und freut sich.
Dann erhebt Arthur Schnitzler sich selbst. Voll Ruhe und
Uebung, und auch als Vorleser, wie sein gesamtes Schriftwerk, von allem
Lärm distanziet, liest er die Novelle von „Leutnant Gustl“. Die
kennen wir schon seit 1900, und falls „Fräulein Else“ erst in ihrem
Erscheinungsjahr 1924 geschrieben ist, so würden wir sehen, daß ein
Zwillingspaar zeitlich durch ein Vierteljahrhundert getrennt sein kann.
Hier wie dort geht die besondere Wirkung von einer beide Male
meisterhaft beherrschten Technik aus; ein Erlebnis wird nicht nur
geschildert, es wird von denen, die es erlebt haben, auch nicht nur
wiedererzählt. Es ist Erlebnis in Präsenzform. Es ist Tatsache, Ge¬
ühl, Katastrophe eben des Augenblicks, den wir selbst ein= und aus¬
atmen.
Auch Schnitzler, dem Wiener Deutschen, hallte der Beifall nach. Es
war ein schöner Abend im Rahmen der Veranstaltungen des Ver¬
bandes deutscher Erzähler unter Georg Engels eifrigem
Vorsitz.
31. Fraeulein Else
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Berliner Volksblatt
Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutichlands
Morgen¬
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Ausschmitt aus der Abends
vom
Ir
Dichterabend im Reichstag.
Sonntag war es und abends um acht, Dunkelheit und mächtige
Kälte lagen schon über der Stadt, für die Kinos, die Kabaretts, di
Theater war das wohl richtige Zeit, nicht aber für eine Reichstag
sitzung für den Ernst, für die Arbeit. Doch obwohl auf keinem her
Türme des Wallot =Baues die schwarzrotgoldene Fahne flatterte,
herrschte um die seltsame Stunde ein Andrang wie bei ganz großen
Tagen. Lange vor Beginn der Sitzung war der Saal überfullt.
Hunderte mußten stehen, feierlich waren die männlichen, festlich die
waiblichen Abgeordneten gekleidet. Georg Engel eröffnete die Sitzung,
u der der Verband deutscher Erzähler geladen hatte, begrüßte die
Erschienenen, die vielen Würdenträger unter ihnen und insbesondere
den Dichter Arther Schnitzler, mit ihm eine große Künstlerin,
die die Absicht habe, Kostbares von seinem Werk zu künden: Elisa¬
beth Bergner. Das war nun ein rührendes, unvergeßliches
Bild, wie die berühmte Schauspielerin; in dem Moment ein armes
Hascherl, zaghaft, bubiköpfig und mit märchenhaftem Silberweiß
behängt, auf dem Platz des deutschen Reichskanzlers hockte, neben ihr
der Wiener Dichter, sinnig saß er auf dem Platz des Außenministers.
Vom hochlehnigen respektablen Stuhl des Reichstagspräsidenten aus
sprach die Bergner mit knabenhaft klarer Stimme Schnitzlers No¬
velle „Fräulein Else“. Sie schuf sie neu, lebte sie vor, ließ
tausend Menschen miterleben, hatte eine Stunde der Gnade, wie sie
selbst den Größten nur selten geschenkt wird.
Nachdem das traurige Erlebnis von Fräulein Else, der Bürgerin
mit dem Godiva=Erlebnis, verklungen war, brach ein Beifallsdonner
los, auf allen Bänken, von der äußersten Rechten bis zur äußersten
Linken, wie er selbst in diesem oft lärmvollen Hause nur selten ge¬
hört werden wird. Der Dichter kam nunmehr selbst an die Reihe,
eine Vorlesung wirkte erfrischend, hell war es im Saal, heller auch
das Thema seiner Wahl, abschon es von keinem Selbstmord handelte,
vom niemals ausgeführter Selbstmord des k. k. „Leutnant
Gustl“ nämlich. Der Wiener Poet offenbarte bei dieser Gelegen¬
heite eine charmante Vortragskunst. Auch ihm jubelte man nicht
wenig zu, demonstrierte gern dabei auch für seiner Heimat politischen
Anschluß an die deutsche Republik; der österreichische Gesandte war
im Hause. Groß war dieses Abends Erlebnis.
Erich Gottgetreu.
Veriner Cagesah
9 Feb. 4926
Abend im Reichstag.
XX Der Reichstag war vollbesetzt, der Saal selber, die
Tribünen, die Estrade unter dem Präsidentensitz, und dort saßen
Männer und Frauen, die im Bädeker des Reiches, des Staates, der
Stadt und der Literatur ein oder zwei Sterne haben oder bean¬
spruchen.
Zwischen den riesigen Stuhl des Präsidenten und seinen Tisch schiebt
sich ein zartes Mädchen in Weiß, sicht sich scheu um, schlägt ein Buch
auf. Wird diese Stimme, wenn auch geschult und voll Gewöhnung an
ein großes Auditorium, wird sie diesen fremden und eckigen Raum
bezwingen? Leise klingt es an, aber glockenhaft klar, Tonperle auf
Perle. Der Zuschauerkreis bis in den fernsten Winkel hält äußerste
Stille. Das ist ein Zeichen, daß jeder alles versteht. Scheinbar nur
aus dem Flachlonde eines gewöhnlichen novellistischen Geschehens, so
beginnt Arthur SchnitzlerKFräulein Else“ aus Elisa¬
beth Bergners Munde hörbar zu werden. Dann zieht die Vor¬
leserin uns und die Geschichte immer näher an sich heran. Sie wird,
ohne laut zu werden, eindringlich. Sie spielt, ohne Theater zu machen.
die Gestalt. Sie begreift ganz das Dramatische dieses kleinen Epos,
aus dem eine Mädchenseele in den Tod hinein erblüht.
Das zarte Mädchen klappt das Auch zu, verschwindet wie ein weißes
Wölkchen vom hohen Göttersitz Löbes. Donnernder Beifall rollt ihr
nach, zwingt sie hervor, immaer wieder. Sie wundert sich und freut sich.
Dann erhebt Arthur Schnitzler sich selbst. Voll Ruhe und
Uebung, und auch als Vorleser, wie sein gesamtes Schriftwerk, von allem
Lärm distanziet, liest er die Novelle von „Leutnant Gustl“. Die
kennen wir schon seit 1900, und falls „Fräulein Else“ erst in ihrem
Erscheinungsjahr 1924 geschrieben ist, so würden wir sehen, daß ein
Zwillingspaar zeitlich durch ein Vierteljahrhundert getrennt sein kann.
Hier wie dort geht die besondere Wirkung von einer beide Male
meisterhaft beherrschten Technik aus; ein Erlebnis wird nicht nur
geschildert, es wird von denen, die es erlebt haben, auch nicht nur
wiedererzählt. Es ist Erlebnis in Präsenzform. Es ist Tatsache, Ge¬
ühl, Katastrophe eben des Augenblicks, den wir selbst ein= und aus¬
atmen.
Auch Schnitzler, dem Wiener Deutschen, hallte der Beifall nach. Es
war ein schöner Abend im Rahmen der Veranstaltungen des Ver¬
bandes deutscher Erzähler unter Georg Engels eifrigem
Vorsitz.