I, Erzählende Schriften 31, Fräulein Else, Seite 134

Filmpianist sein heisst, auf eine knappe Formel gebracht:
Also wir halten bei einem Beispiel.
Es ist kein Schul¬
Den Filmdarsteller durch „zweckmäsige“ Musik in die vom
beispiel.
Manuskript vorgeschriebene Stimmung bringen, ihn in ihr
Was könnte für einen armen, vom Grübelj zer¬
erhalten! Welchen wesentlichen Faktor ein guter Atelier¬
quälten Geist, für einen vom langsam wirkenden Ve¬
pianist für den Künstler vor dem Kurbelkasten bedeuten
ronal zermürbten Körper wohl für eine Musik gebo¬
kann, wird der begreifen, der sich vergegenwärtigt, wie
ten sein? Ein trauriger Fall! Eine tragische Szene!
viel innere Bereitschaft seitens des Schauspielers nötig ist,
Ich
habe Jazz
gespielt, zu dieser Szene in
um die kaum 3 Minuten währende Szeue eines Filmmann¬
Moll!
Sehr leise, sehr verhalten, wirr, abgerissen. Aber
skripts zwingend echt und natürlich zu gestalten.
Warum? Wieso?
Der Darsteller einer Bühnenrolle hat es darin leichter.
Nun: Das ist noch ein Nachher!
Er braucht, sofern er ein Künstler ist, Rollenstudium und
Else sucht Dorsday.
Was weiss sie denn noch
künstlerisches Erfassen seiner Partie, um sie in Spiel um¬
von sich? Zwei Regungen bekämpfen einander seit
zusetzen. Ablenkungen, wie z. B. im Anfang das Wissen um
Tagen in diesem zerquälten Gehirn, brennende Scham
ein Publikum, bezw. das Achthaben auf die Stichworte, über¬
und der Wunsch, den Vater zu retten.
windet der wahre Künstler bald; einmal, durch die in sich
Nun ist sie also da, in Dorsday’s Schlafzimmer.
geschlossene geistige Vorstellung, die er von seiner Kolle
Aber sie kommt zu spät. Dorsday ist fort, das Schlaf¬
hat, zum anderen, durch das gesprochene Wort und seinen
zimmer leer. (Sie weiss nicht, dass er, nicht mehr
Sinn. So entstehen die grossen Charaktere, die „Typen“ auf
mit ihrem Kommen rechnend, in den Spielsaal des
der Bühne, die ein Parkett zu erschüttern vermögen.
Hôtels hinuntergegangen ist, um sich abzulenken).
Anders beim Film. Vor uns liegt ein Manuskript zur
Sie weiss nur eins: Es ist alles umsonst gewesen;
Verfilmung, eingestellt in eine mehr oder weniger grosse An¬
die Hilfe für den Vater in Frage gestellt; mittlerweile
zahl von Szeuenbildern, je nach Länge des behandelten
wirkt das Gift. Jetzt ist es nur noch ein schreck¬
Stoffes. Ja, aber: Von diesen, sagen wir. 150 Szenen, spie¬
hafter Gedanke, der sie beherrscht: Hilf dem Vater!
Hilf dem Vater!
len 20 in einem Salon, 30 in einer Bar usw. usw. Welche
Filmgesellschaft könnte sich wohl den Luxus gestatten, diese
Da hört sie diese fernen, stechenden, aufpeitschen¬
Szenen von 1 bis 150 der Rcihenfolge nach zu kurbeln? Das
den Klänge... Synkopen, Jazz... ach ja, ich bin ja
iesse etwa, den Salon, der zwanzigmal im Manuskript vor¬
in einem grossen Hôtel in St. Moritz, erinnert sie sich.
kommt, zwanzigmal neu aufbauen, ganz abgeschen davon,
Ich werde mich unmöglich machen! Nun ist das
welche Schwierigkeiten es machen würde ihn unverän¬
Schreckliche wieder da: Die Schande, die Schande...
dert jedesmal wieder hinzustellen. Diese Vitrine hier, je¬
Aber der Vater... und unten spielt erbarmungslos die
nen Sessel dort usw.
Musik — leise klingen die Töne bis in das stille Zimmer
Unten tanzen die Paare, und Dorsday wird tanzen,
Eine Unmöglichkeit also — in technischer, wie in
oder wird er am Roulettetisch sein?! Das Gft wirkt
wirtschaftlicher Beziehung.
stärker. Sie fröstelt.., Ach, unter dem Mantel bin ich
Natürlich wird das so gemacht, dass dieser Salon ein¬
nackt... Aber der Vater... Was wird Cissy sagen?.
mal gebaut, diese 20 Szenen abgespielt, und der Salon dann
abgerissen wird.
Wie die Tante schauen wirdl... Na die werden
Augen machen!
Hier setzt die Tätigkeit des tüchtigen Regisseurs ein, die¬
Aber der Vater wird sich das Leben nehmen! Und
ses Stückwerk, diese 20 von einander durch Zeit und Hand¬
sie gcht... Dorsday suchen. (Abblenden. Szene aus!).
lung ganz verschiedenen Szenen in ein später geschlossenes
Ganze so einzufügen, sie von den Darstellern derart spielen
Das ist also das Nachher! Die Szene im Röulettesaal!
zu lassen, dass das Gesamtwerk dem Zuschauer Tänclung
Ein ihrertwillen ist diese aufpeitschende, wrre, synkopierte
vermittelt, Tempo hat und Gestaltungskraft bekommt.
Musik in Zweiviertel-Rhythmus so gut. so wichtig, unter¬
Was ergibt sich hieraus für den Filmdarsteller?!
Das
malend.
Fehlen einer Handlung; weiterhin die vermittelnde Kraft des
Kein sentimentaler English Waltz, kein Tschaikowski,
gesprochenen Wortes.
Der Künstler braucht zum Spielen
kein Beethoven. Damit wäre nichts anzufangen. Nur das
einer Szene hier seine ganze Konzentration und eine reiche
eine: Jazz und Jazz in dieser Form!
Phantasie.
Eine andere Szene — im Manuskript unmittelbar folgend,
Ein Beispiel: Eine Szene aus dem Film „Fräulein
im Atelier viele Tage vorher gedreht:
Else“
nach der Novelle von Arthur Schnitzler,
Else geht, wie automatisch die Beine eins vors
dessen Uraufführung wir im Capitotzu Bertin sochen er¬
andere setzend. in die Gesellschaftsräume. Die Trep¬
leben:
pen hinunter.,. Wie viel Stufen, wie viel Stufen.,, Men¬
Else ist in das Zimmer Dorsday’s gekommen. Sie
schen kommen.,, schauen ihr verwundert nach..
sie
hat zuvor eine Schachtel Veronaltabletten geschluckt.
zicht den Hermelinmantel enger um sich., steigt Stufen
Nur so ist es ihr möglich, den Wunsch des schöngei¬
hinunter. jetzt am Spielsaal... da.. stehr Dorsday,
stigen, etwas verschrobenen Lebemanns zu erfüllen,
spielt Roulette.,, setzt.,, während sie.., Kein Mensch
sich ihm nackt zu zeigen. Er verlangt es; dann will
achtet auf die Frau an der Tür.,, alle Augen sind starr
er ihrem Vater, der mündelsichere Gelder unterschla¬
auf die rollende Kugel gerichtet.,, Geld.,, Man spielt
gen hat, mit Geld aushelfen. Sie weiss, das sie ster¬
um Geldl.. Da ruft sie leise, eindringlich: „Herr
ben wird; aber sie wird den Vater retten. Also die
v. Dorsday!“ Der Mann blickt sich um., ihr Mantel
Kindesliebe eines achtzehnjährigen, sehr verwöhnten,
fäilt.,, ah., jetzt taumelt sie.,, sie sinkt hin.,, sackt förm¬
sehr eingenartigen, kapriziösen Mädchens aus dem
lich zusammen. Dem Vater ist geholfen — jetzt kann
Nachkriegs-Wien.
ich schlafen.. Nacht um sie. Ohnmacht.
Diese Else spielt die Bergner. Diese Bergner aber hat
Skandal! (Szene aus, Abblenden!)
kein
Veronal genommen, soll sich keinem Dorsday nuckt zei¬
gen, braucht niemanden zu retten. Sie soll das nur „spie¬
Und die Musik?! — Was soll man da wohl spielen? Kei¬
len“. Aber sie ist eine Künstlerin, und sie wird es spie¬
nen Jazz! Um Himmelswillen keinen Jazz! Das muss man
len. Gut, herrlich!
fühlen! Ich habe das dritte aus den Gustav Mahler“
Indes, was sicht sie?! — Einen Ausschnitt von Dorsday's
schen Liedern eines Fahrenden Gesellen gespielt, jenes mit
Schlafzimmer — schön! — den sie auf das Zeichen des Re¬
dem Text: „Ich hab“ ein glühend' Messer, ein Messer in mei¬
ner Brust, das schneid't so tief, so tief —
gisseurs hin „Achtung, Aufnahme, ios!“ betreten
oh weh!“
wird. Sie sicht grosse Lampen, die von allen, nur mögli¬
Wenn Else hinsinkt, ist auch mein Spiel aus, bricht ab¬
brutal
— Genug Beispiele!
chen Seiten her sie bestrahlen; sie sicht an diesen Lampen
Arbeiter in blauen Kitteln, mit unbewegten, unbeteiligten Ge¬
Zu sagen wäre noch das:
sichtern zur Bedienung eben dieser Lampen; sie sicht den
Atelierpianist kann man nicht werden. Atelierpianist
Apparat auf sich gerichtet, den Operateur und seine Gehil¬
muss man sein! Und um es gut zu sein, braucht man eine
fen; (während dessen wird die den Lampen ausströmende
starke, pianistische Begabung, ein gradezu phänomenales.
Hitze immer unerträglicher); sie sieht —
und das ist ein
musikalisches Gedächtnis (denn man muss alles kennen, um
Glück
— den Regisseur und hört seine eindringlichen, ver¬
esauswendig spielen zu können), Einführungsvermögen und
mittelnden Worte. Aber im Grunde sicht sie das Grune¬
künstlerischen Geschmack.
waldatelier in Berlin und nicht das Schlafzimmer Dorsday's;
Denn was eine Anna May Wong zu Tränen rührt,
nichts da von Stimmung, wenn sie nicht vermag, zu über¬
(Franz Lchär’s Vilia, oh Vilia.,.) rührt eine Elisabeth
sehen, was nicht in ihre Situation hineinpasst. Begreift
Bergner nie und nimmer zu Tränen. Jeder Mensch hat seine
man, wie schwer das ist?!
Lieblingskomponisten, seine musikalischen Lieblingswerke,
lier setzt die Tätigkeit des Atelierpianisten ein.
was bei weniger Musikalischen wohl meist auf heiteren,
(Nebenbei bemerkt: Diese Musik im Atelier hat nichts
beziehu gsweise ernsten Erinnerungen beruhen wird, bem
mit der Musik zu tun, die später gehört wird, wenn der
Künstler einer bestimmten musikalischen Geschmacksrichtung
Film im Filmmneater läuft. Ein Kapellmeister im Kinohaus,
entspringt.
könnte bisweilen vielleicht auch einen guten Filmpianisten
abgeben; ein guter Filmpianist wird unter den nötigen, tech¬
Und die Gabe, gewissermassen die musikalische Achil¬
nischen Voraussetzungen immer ein guter Kanellmeister
lesferse einer Filmdarstellers zu treffen,
ihm ans Herz zu
sein. Er möchte das wohl auch. Aber meist fehlen eben
ühren, hat der echte Filmpianist.
leider die technischen Voraussetzungen!)
Curt Grabowski.

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