I, Erzählende Schriften 31, Fräulein Else, Seite 139

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Fraeulein Else

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ARGUS SUISSE ET INTERNATIONAL
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Fräulein Else als Film
b. B. Berlin, im März.
Gestern abend konnie man in Berlin meinen, wir seien so weit
mit der Technik; die Toten stünden auf. Wie lange ist es her, daß
wir den Schauspieler Steinrück begraben haben? Lang ist es her.
Seit gestern jedoch ist er wieder zu sehen. Leibhaftig wie er
gewesen ist, und man kann sich doch ziemlich genau entsinnen, wie
er gewesen ist, leibhaftig also geht er über die Leinwand, ißt,
trinkt, rauicht und spricht. Jedoch ohne Worte. Und das ist es
Die Toten stehen nicht auf. Dieser Film, der das Leben nicht
packt, zeigt uns den Tod. Und der Tod? Daß wir nicht leben.
Der Film, „Fräulein Else“ das neue Erzeugnis der Elisabeth
Bergner=Produktion mit der Bergner, Bassermann und Stein¬
rück in den Hauptrollen, ist hier (im Kapitol) ein ziemlicher Erfolg.
Der Stoff ist aus der Novelle „Fräulein Else“ von Schnitzler
genommen. Fräulein Else, die Tochter eines Wiener Vawalts,
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bekommt in St. Moritz, wo sie sich mit ihren Verwan## auf¬
hält, von ihrer Mutter die Nachricht, ihr Vater sei durchberfchl#e
Spekulationen an der Börse in eine schlimme Lage ges#len. Es
gebe nur einen Ausweg, sie, Else, müsse den reichen Kunsthändler
Dorsday, der im gleichen Hotel wohnt, bitten, dem Vater 30 009
Gulden zu leihen. Das Mädchen fürchtet sich sehr vor dem Auf¬
trag, überwindet aber schließlich die Angst und bittet den Kunst¬
händler um das Geld. Herr D. erklärt sich bereit; jedoch unte
der Bedingung, daß sich ihm das Mädchen nackt zeige. Stunden¬
lang kämpft Else, ein halbes Kind noch, his sie schließlich eine
Rolle Veronal schluckt, sich in ihren Mante hüllt und zu dem
in der Halle, trifft ihn an der Bar, öffnet den Mantel und stürzt
bewußtlos zusammen. Das Gift tut seine Wirkung. Sie wacht
nicht mehr. Soweit ist die Handlung von Schnitzler. Für den
Regisseur gab sie nicht genug her, und um die notwendigen 2000
Meter voll zu bekommen, hat man die Vorgänge breit aus¬
geschmückt. Der Zuschauer sieht also das Haus des Anwalts in
Wien, die Reise nach der Schweiz, den Betrieb in einem eleganten
Kurort, viele Landschafts= und Gesellschaftsaufnahmen.
So primitiv aber diese Mischung aus Kulturfilm und Seelen¬
tragödie in der Erfindung ist, so realistisch ist sie in der Dar¬
stellung. Jedes Zimmer wird dem Zuschauer vorgeführt, als sei
er ein Käufer, und unter den Personen bewegt er sich bereits nach
kurzer Zeit wie zu Hause. Bassermann leidet qualvoll unter
seinen verfehlten Spekulationen; Steinrück bewältigt das un¬
angenehme, reizvolle, aber niedrige Abenteuer mit dem hilflosen
Mädchen mit der vollendeten Haltung eines alten Grandhotel¬
besuchers, bloß die Bergner bleibt stellenweise noch ein bißchen
Schauspielerin und ist folglich nicht so erschüttert, wie es die
der Schauspieler wegen.
Rolle von ihr verlangt. Und so haben wir den ersten Einwand
gegen diesen Film: Die Schauspieler spielen sich selber, und ihre
Kunst besteht nur darin, daß sie sich in einer besonderen Lage
ihres Lebens photographieren lassen.
Diese Lage ist aber an sich keine besondere, sondern an sich
nur eine widerwärtige. Ein sehr leichtsinniger Spekulant verspielt
ihm anvertraute Gelder. Um ihn vom Selbstmord zurückzthalten,
pannt seine Frau ohne weiteres ihr einziges Kind in den Ge¬
schäftsbetrieb dieses Hauses. Dieses einzige Kind, das, wie man
ieht, zu einer puppenhaften Hilflosigkeit erzogen ist, versagt vor
einer Aufgabe. Vor diesem fauligen, übelriechenden Sunipf, aus
dem in einemfort die Annehmlichkeiten des Reichtums wie Blasen
aufsteigen, hat der Zuschauer zwei Stunden zu sitzen.
Da dieser Film wegen der Schauspieler ist und nicht seine
Schauspieler wegen einer Handlung, entstehen weitere Unwahr¬
cheinlichkeiten. Fräulein Bergner ist nämlich in keiner Weise so
chön gewachsen, daß der Wunsch des Kunsthändlers, sie nackt zu
sehen, auch der Wunsch des Zuschauers wird. Die Schönheit des
Weibes, welche diesen Junsch motivieren könnte, hat sie nicht.
So wird das Verlangen des Kunsthändlers in die Nähe eines
Lustmords gerückt.
Sehen wir aber von solchen Kleinigkeiten ab, welche heutzutage
der Ruhn einer Schauspielerin und die überfütterte Phantasie
der Zuschauer zu überbrücken vermögen. Das Niederträchtige, das
hier Selbstzweck ist und obendrein dem Zuschauer für sehr viel
Geld verkauft wird, ich bin einverstanden, wenn wir sagen: So
st das Leben. Dann aber wollen wir noch das Folgende hinzu¬
fügen: Die Regie hat gesiegt. Schauspieler und Regisseur ver¬
ammeln das Publikum, welches Platz zu nehmen hat. Die Auf¬
nahme beginnt und es hat allgemeines Schweigen zu herrschen.
Was nun folgt, spielen wir alle mit. Das Niederträchtige wie das
Sinnlose. Es geht nicht anders, weil ja der Schauspieler den
Dichter nicht korrigieren kann. Wir aber dürfen es nicht vergessen,
daß wir nur Schauspieler sind und daß wir dazusitzen haben,
wie der Regisseur es befiehlt. Ein bißchen merkwürdig ist bloß,
aß der Regisseur dabei verdient, während wir dabei bezahlen
müssen.
So kommt es, daß dieser Film, der fachmännisch betrachtet, das
heißt so betrachtet, wie der Metzger das Kalb ansieht, gar nicht
chlecht ist, sondern gut gemacht, auf keine Weise zu retten ist. Ob¬
gleich es nämlich unter den Menschen viele Mörder gibt, ist der
Mensch kein Mörder. Wer also behauptet, der Mensch sei ein
Mörder, ist ein Lügner.
II.
Wie kommt es, daß solche Filme gedreht werden? Vor einiger
Zeit erzählte mir der Direktor einer großen Berliner Filmfabrik,
er habe einen sehr guten Stoff gefunden. Er wolle einen Film in
mitgegangen, aber das Gros ist doch geblieben wo es war,
der Führer ist ihm auch in der inneren Entwicklung weit vor¬
ausgeeilt, und als es nun die Probe galt, wer stärker sei,
zeigte sich, daß die ewig Gestrigen dem Führer die Treue
versagten.
Man würde es verstehen, wenn Dr. Stresemann nach so
Ka