I, Erzählende Schriften 31, Fräulein Else, Seite 162

Doch ware dies ohne weiteres möglich geweseh.
Um so mehr, als Paul Czinner ein Aufnahme¬
techniker zur Seite stand, der, selbst schöpfe¬
risch, wiederholt bewiesen hat, daß er das
Vokabular der Filmbildersprache vollendet be¬
herrscht: Karl Freund hätte mit unzähligen
interessanten Einstellungen (die übrigens der
Film auch in seiner vorliegenden Fassung auf¬
weist) subjektiv =psychische Vorgange (also
Fräulein Elses Ich=Gedanken) obar gemacht.
Czinner schälte aus „Fräulein Elses“ Er¬
innerungsaufzeichnungen die geradlinige Hand¬
lung, die im Film chronologisch entwickelt
wurde: Damit war ein Vorteil gesichert: die
Gestalten um Fräulein Else gewannen scharfe
Konturen. Man verfügte über Rollen, nicht
bloß für Elisabeth Bergner (die in ihren jüng¬
sten Filmen fast nur noch Solo spielte), son¬
ern auch für die anderen: für Bassermann
uno Steinruck. Die ersten Akte des Films, die
lüchtig Fräulein Elses fröhlich=kindhaft=reines
Wesen zeichnen, füllt die Tragödie des mate¬
riell, physisch und seelisch zusammenbrechenden
Vaters, des Dr. Thalhoff, die Albert Basser¬
mann, ein Meister der stummen Übergange
auch auf der Bühne, ergreifend gestaltet. Ihm
assistiert, als stets mit=optimistisch gewesene,
von Enttäuschung und Unglück nun schwer
mitbetroffene Gattin, Else Heller.
Wenn sich der Abblendungsvorhang über
diesen Abschnitt der Handlung gesenkt hat,
dann erst tritt Fräulein Elses Drama in das
entscheidende Stadium, dann hebt die Schick¬
salstragödie des Mädchens an, das aus dem
Traum harmloser Winterfreuden zu bös¬
artiger Wirklichkeit erweckt und dem eine
Mission übertragen wird, deren Schwere die
zaxte Seele drückt und an deren ganz unvor¬
hergesehenen Folgen das junge Leben zer¬
bricht. Bassermann schon rückt alles Seelische
ichtbar ins Filmbild. Elisabeth Bergners
Antlitz jedoch ist Seelenspiegel, alles Korper¬
liche an ihr wird zur Seelensubstanz, jeder
Blick reflektiert tiefste Empfindung. Wenn
manchmal der Verdacht des Virtuosentums in
dem Beschauer aufkommen will, zerstreut ein
anfter Schimmer, der Elisabeth Bergners
Gesichtszüge verklärt, oder ein Lacheln, das
der eben von schmerzlichen Zucken erlöste
Mund gebiert, oder eine ganz ursprüngliche
Bewegung des gaminhaften Leibes alle Be¬
denken und Verdachtsmomente.
Die Bergner hat eine virtuose Seele, ein
reiches Register der Gefühle —, kalte Artistik
kann niemals solche Verinnerlichung vor¬
täuschen. Im Film auf keinen Fall! Albert
Steinrück als der genießerische Herr von
Dorsday, der unmittelbar Fräulein Elses Tod
verschuldet, erwacht als Schwarz=Weiß=Figur
noch einmal zum Leben, zu einer Fülle von
Leben und Echtheit. Adele Sandrock, eine
wienerische alte Tante, wie sie im „High Life“
im Buch der guten Gesellschaft verzeichnet ist.
Jack Trevor in der passiven Rolle des Paul
hat zumeist bloß von Reizen schweizerischer
Landschaft und von den Resultaten sportlicher
Leistung begeistert zu sein. Das macht er
scharmant.
Der Regisseur Paul Czinner als Dirigent
des Prominenten=Orchesters und insbesondere
in den essentiellen Szenen — der Solistin
Elisabeth Bergner, beweist Geschmack und
sicheren Blick für alles Naturgemäße. Jede
Passage hat Sinn und Inhalt und jene Bild¬
folgen, in denen Fräulein Else in Angst und
Bangen den Spuren des Herrn von Dorsday
nachgeht, um ihm das erniedrigende Anliegen
um Geld für den Vater vorzubringen, sind
geistvoll aufgebaut. Der literarisch künstlerische
Wert des neuen Schnitzler=Bergner=Films ist
ein unbestritten hochgradiger. Das Publikum,
das bei der „Concordia“=Aufführung den Vor¬
gängen des Films mi Ergriffenheit folgte,
weiß ihn zu wurdigen.
Friedrich Porgys,
31. Fraeulein Else
box 5/3

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„Vrient“. Es gibt noch Erlebnisse! Was will
fe Diskussion um den stummen Film besagen,
venn Werke wie 2Das Drama von St. Moritz“
verliegen? Hier haben wir den Beweis für die er¬
habene Mission des wortlosen Films, den die
Kunst Elisabeth Bergners in Schnitzlers zFräu¬
ein Elseg belebt. Seit ihrem -Geiger voll Florenz“
Tsahen Wir sie nicht mehr auf der Leinwand, und
nnun bietet sie eine über alle Massen ergreifende,
vertiefte und lebendige Darstellung der Jjungen
Rechtsanwaltstochter, die eine Variation des
Schicksals der Lady Godiva durchmacht. Elisa¬
beth Bergner nimmt unter den Stars der Lein¬
wand insoferne ine Sonderstellung ein, als sic
überhaupt keine repräsentative Kunst -im-einne
womit sie mit Jan¬
der Schauspielerei bietet —
nings die obersten Bezirke der Filmdarstellung
sondern weil ihre Gestalt dieser
beherrscht —
Else Thalhof ein Korrelat der Seele ist, deren
feinsten Regungen auch der Beschauer mit ange¬
spannter Teilnahme nachgeht. Dieser eine deutsche
Film wiegt hinsichtlich der Erscheinung seiner
Holdin so ziemlich alles, was uns stwa seit zGe¬
brochene Blütens der Lilian Gish begegnet ist,
auf. Was aber bei der Amerikanerin doch immer
raffinierte Retouche ist, zeigt sich hier als klare,
scheinbar in einmaligem Lug gelungene Zeich¬
nung eines Charakters, der, wenn man bedenkt,
dass nur das Visuelle wirksam ist, von einer ver¬
blüffenden Genauigkeit der Wiedergabe ist. Sc
kann es nicht ausbleiben, dass man namentlich
im zweiten Teil des in St. Moritz aufgenommener
Films von dieser Kunst der Bergner, das Zer¬
brechen einer Jungmädchenseele zu offenbaren,
gebannt bleibt. In vornehmer Reserve hält sich
der inzwischen gesterbene Albert Steinrück als
Herr von Dorsday, dessen Forderung das Ende
eines jungen Lebens beschwört, und er gibt da¬
mit der Bergner für ihr Spiel volles Licht. Die
Regie Paul Czinnerskonzentriert sich auf den
dramatischen-Schlusseffekt, lässt im ersten Teil,
der den Zusammenbruch Thalhofs schildert,
etliche Längen zu, trifft aber die typisch Schnitz¬
lersche Atmosphäre.
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