I, Erzählende Schriften 31, Fräulein Else, Seite 227

NEUE FREIE PRESSE
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Ausschnitt aus der
„NEUEN FREIEN PRESSE“
vom:
4DEZ. 606
Theater in der Josefstadt.
Schnitzlers „Fräulein Else“.
Was an Arthur Schnitzlers Rovelle „Fräulein Eise“
einst so sehr gepackt, was ihren großen Erfolg vor allem
verursacht hat, war die inerhörte psychologische Intensität,
die unerbittliche Konsequenz ihrer Gestaltung. Sie war ganz
und gar auf dieses Fräulein Else selbst gestellt und der Form
nach das, was die Franzosen einen Monologue intérieur
nennen. Menschen und Vorgänge zeigten sich dem Leser nur
insofern und insoweit, als sie von Elses labilem und über¬
reiztem Gefühlsleben gespiegelt wurden. Sie selbst, ein
höchst problematisches kleines Seelchen mit der ungestillten
Sehnsucht nach dem Höheren, nach sittlicher Reinheit und
echter Liebe, ging sehr folgerichtig an einer Umwelt zugrunde,
die sich geflissentlich für die „beste bürgerliche Gesellschaft“
hielt, ohne auch nur Gesellschaft überhaupt, geschweige denn
gute Gesellschaft zu sein. Nur aus, solchem Milien heraus
war es denkbar, daß ein depraviertes Elternpaar seine
Tochter in die Gefahr geraten ließ, ja beinahe das Ansinnen
an sie stellte, ihre Schönheit um einen rettenden Geldbetrag
zu verkaufen, nur aus solch schwüler und überreizter Atmo¬
sphäre wurde es verständlich, daß Else sich einerseits
entschließt, ein halbes Monna=Vanna=Abenteuer mit einem
lasterhaften alternden Prinzivalli zu riskieren, um so den
Vater, Spieler und Betrüger in einer Person, vor dem
Kriminal zu bewahren, anderseits aber nach vollbrachtem
Opfer Selbstmord begeht. All das glitt in der Novelle in
einem Clair obseur zwischen Wirklichkeit und Traum an
uns vorüber, und sicherem Vernehmen nach hat der Dichter
selbst nur insofern an eine Uebertragung dieser heiklen Vor¬
gänge auf die Bühne gedacht, als das Monologhafte der
Form, das irgendwie Irreale des Inhalts im wesentlichen
gewahrt bleiben sollte.
Die Bearbeitung Ernst Lothars indes, die nun in
der Josefstadt zu sehen ist, weicht in einer Reihe wichtigster
Punkte von dieser Auffassung, aber, darüber hinaus,
auch vom tieferen Sinn der Novelle ab. Einmal verlegt sie
die Geschehnisse aus den neunziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts in die Gegenwart und nimmt ihnen so manches
von ihrer Wahrscheinlichkeit. Zum andern Mal ist sie, aus
naheliegenden Gründen, bemüht, die frivole Welt, in der
Fräulein Else lebt, sittlich ein wenig zu heben — aus dem
leichtsinnigen Vater etwa wird etwas wie ein Edeldefraudant
die Zumutung, die an die junge Dame gestellt wird, erscheint
dadurch jedoch nur noch abstruser und ihr Verhalten verliert
durchaus nichts an Peinlichkeit. Schließlich aber hat Lothar
zwar mit pietätvollem Takt so viel wie nur irgend möglich
von der Schnitzlerschen Diktion herübergenommen, indes
mußte die zentrale Stellung Fräulein Elses in dem Moment
aufgegeben werden, da er sich dazu entschloß, aus dem dünnen
31.
Fraeulein Else

nn
äußeren Geschehen der Novelle ein abendfüllendes Theater¬
stück zu machen und zu diesem Zweck die Gestalten und
Ereignisse zu objektivieren.
Die Aufführung des Theaters in der Josefstadt unter
Hans Thimigs Regie unterstreicht nur noch, vielleicht
ogar ein wenig zu sehr, das „mondäue“ Milieu, das man
auf dieser Bühne nun einmal zu sehen liebt. Nieder¬
moser hat ein ungemein fashionables Alpenhotel mit Hall,
Speisesaal und allem neuzeitlichen Komfort aufgebaut, in
dem besonders dem Telephon etwas wie eine Hauptrolle
zukommt: Fräulein Else macht davon sehr reichlichen
Gebrauch und es gibt ihr Gelegenheit, kräftig drauf los
zu monologisieren. Rein darstellerisch ist es ein großer Abend
dieses Theaters. Rose Stradner verkörpert die Titelrolle
in holder Blondheit, gleichsam aus dem Bildmäßigen
ihrer jungmädchenhaften Erscheinung heraus, sie überrascht
durch die Feinheit der Uebergänge, namentlich auch im
stummen, vielfach melodramatisch untermalten Spiel, später
indes läßt sie das Gehetzte, das Gejagte einer gemarterten
Kreatur unter lächelnden Oberflächlichken sehr schön
rahnen, und wenn es ihr schließlich nicht anz gelingen mag.
zu rühren oder gar zu erschüttern, so das wahrhaftig
nicht ihre Schuld. Kaspar Brandhofer gibt den Anti¬
quitätenhändler v. Dorsday, diesen sentimental=zynischen
Maniaken, der im Leben für alles bezahlen mußte und daher
glaubt, daß auch alles gekauft werden könne, und wenn nicht
alle Zeichen trügen, so bedeutet er einen starken Gewinn für
unsere Bühnen. Erstaunlich, was er aus dieser Rolle heraus¬
holt, die seinem Temperament im Grunde nicht recht liegt,
und daß es ihm glückt, sie, besonders durch die Vehemenz
der Gestaltung, überhaupt erträglich zu machen. Vielleicht
ist noch ein Zuviel an Mimik da, etwa im höhnischen
Fletschen der prachtvollen Raubtierzähne unter dem natur¬
gewachsenen blonden Umhängebart. Aber in seiner leiden¬
schaftlichen Verhaltenheit, in seinen elementarischen Aus¬
brüchen wirkt er ganz echt, und man darf auf die weitere
Entwicklung dieses Künstlers gespannt sein. Der Dritte im
Bunde ist Bassermann, der in einer einzigen, durchaus
von Löthar stammenden Szene meisterlich die Ehrenrettung
von Elses Vater vornimmt: man glaubt diesem Schau¬
spieler, unter dessen Händen sich Literatur in Leben ver¬
wandelt, gegen besseres Wissen vorbehaltlos alles. Sonst
ist noch Else Bassermann eine kupplerisch=bornierte
Tante, während Adrienne Geßner, witzig wie immer,
Lina Woiwode, Lilia Skalla und Erik Frey nicht
viel mehr als Stichworte zu bringen haben.
Das Premierenpublikum des Theaters in der Josefstadt
bereitete dem Stück nach allen Aktschlüssen durch lang¬
anhaltenden Beifall eine überaus herzliche Aufnahme. Es
uhte zum Schluß nicht eher, als bis sich, widerstrebend, mit
den Darstellern und dem Regisseur auch Ernst Lothar
E. R.
zeigte.
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