I, Erzählende Schriften 31, Fräulein Else, Seite 231

dwägung, dag ister rein brennendes Zeit¬
problem im Sinne Ibsens vorlag. Was ihn aber
trotdem zur Gestaltung reizte, war die Lust,
eine neue erzählende Form zu erproben und so
etwas wie eine Tragödie hinter dem Vorhang
zu schreiben; denn wenn Fräulein Else nach
vollbrachtem Opfer sich endlich mit Veronal ver¬
giftet hat und tot ist, weiß keiner ihrer Mit¬
spieler, daß und warum dies geschehen ist. Es
ist des Dichters Geheimnis, das er ausplaudert,
und der leise Duft von Indiskretion mag schon
einiges zu dem Erfolg dieses, Alterswerks bei¬
getragen haben, das in seiner Problemstellung
nicht allzu weit von Sudermann entfernt ist.
Die Blutleere und Schattenhaftigkeit der letzten
Dramen Schnitzlers läßt deutlich den verzweifel¬
ten Kampf erkennen, den er führte, um nicht in
diese Richtung zu verfallen, die einem geborenen,
aber ermüdeten Dramatiker immer noch einige
Erfolgschancen gegeben hätte, wenn er gewillt
gewesen wäre, mit seinen künstlerischen Ueber¬
zeugungen ein Kompromiß zu schließen. Er hat
es nicht getan, aber gelegentlich einer seiner letz¬
ten Premieren, die es nur mehr zu Achtungs¬
erfolgen brachten, resigniert und hellseherisch
zugleich geäußert: „Also, erst wieder nach hun¬
dert Jahren!
Er hat zeitlich zu weit gegriffen. Nicht nach
hundert Jahren,
schon wenige Jahre nach sei¬
nem Tod ist die Zeit für die Dynamik Suder¬
manns wieder reif — oder soll man sagen: un¬
reif? — geworden. Und was Schnitzler selbst
aus guten Gründen — vor 12 Jahren unter¬
lassen hat, unternimmt heute der Theaterdirek¬
tor Ernst Lothar mit sicherem Instinkt und
außerordentlichem Geschmack: das dramatische
Potenzial der Novelle „Fräulein Else“
das
Schnitzler ungenutzt gelassen hat, das dem Leser
aber auf jeder zweiten Seite der Erzählung in
die Augen springt, zu bearbeiten und für das
lebende Theater nutzbar zu machen. In sieben
Bildern, knapp und zum großen Teil mit
Schnitzlers eigenen Worten, entrollt sich Fräu¬
lein Elses unzeitgemäße Tragödie, so wirkungs¬
voll und fugendicht, daß kein Mensch mehr an
Nacktkultur denkt, von anderen Gelegenheiten
ganz zu schweigen. Veronal? „Natürlich Vero¬
nal!“ sagt der Besucher. Gibt es einen stärkeren
Beweis für Schnitzlers dramatische Ueberzeu¬
gungskraft? Nur spät und ganz schüchtern fragt
man sich, ob Fräulein Else nicht eigentlich ganz
gut doch hätte am Leben bleiben können, höch¬
tens vielleicht mit irgendeinem Kompler ###
lastet. Wo käme man da heutzutage hin?
Die Aufführung, in der Rose Stradner
als Fräulein Else von einer Darstellerin ver¬
ührerischer Erscheinungen zu einer starken Ge¬
stalterin innerlicher Erlebnisse vorrückte, brachte
zwei Sensationen verschiedener Art: die Ent¬
deckung eines Wundergreises für die Bühne,
eines alpenländischen Gutsbesitzers, dessen Name
Kaspar Brandhofer der Trachtenmode
weitestgehend entgegenkommt. Von Max Rein¬
hardt im Salzburgischen entdeckt, präsentierte
ich der breitschultrige, mit einem echten, grau¬
melierten Vollbart versehene Mann als ein selt¬
sames Naturtalent, das den Worten des schmutzi¬
gen Verführers Dorsdafj nur etwas zu viel von
dem Gewicht auflastete, das naturgemäß sein
erstes Auftreten auf einer großstädtischen Bühne
für ihn selbst haben muß. Die zweiten Sensation
war Albert Bassermann in einer Zehn¬
minuten=Rolle als Fräulein Elses Vater, die
wieder einmal einen Gipfelpunkt seiner alle
seelischen und räumlichen Ausmaße erfüllenden
Kunst darstellt. Mit Virtuosität verstand es
Else Bassermann, die Rolle einer Stich¬
wortbringerin zu einer Charakterfigur von be¬
strickender Konfusion und Ahnungslosigkeit aus¬
zugestalten. Die starke Spannung, die Ernst
Lothar aus Fräulein Elses Monolog herauszu¬
destillieren verstand ist nicht allein Schnitzler
aufs Konto zu schreiben. Es gab stürmischen Bei¬
fall für den toten wie für den lebenden Autor
und für die Darstellung.
Richard Wiener.
31.
Fraeulein Else
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Kleines Volksblatt,
Wien
vom
4.12.1936
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Senione Ränele.
„Fräulein Else.“
Hätte eg noch eines Beweises bedurft, wie
weltenweit sich Sinn und Aufgabe des Thea¬
ters, wie wir es verstehen, von der Literatur
entfernt hat die Artur Schnitzler als ihren
Führer ansah

die jüngsee Reuheit des Josef¬
tädter Theaters hat ihn geführt!
Eine
Novelle des alternden Schnitzler wird in einer
Bearbeitung Direktor Lothars gespielt,
die,

dramaturgisch besehen, ganz vortrefflich
ist.
Aber gerade deshalb wird, was in einer
No¬
velle als Stimmungsbild aus einer
*
zum
Untergang verurteilten Gesellschaft noch
im
Halbdunkel lag, in hellstes Rampenlicht ge¬
rückt. Damit aber wird die Geschichte von dem
sechzigjährigen reichen Mann, der die Notlage
einer guten Familie ausnützt und die Tochter
mit der Forderung, sie möge sich ihm hüllenlos
ur Schau stellen, in den Tod treibt, für unsere
Auffassungen unerträglich. Ja, je ernster und
je besser dieses peinliche Theater gespielt wird,
desto schärfer empfinden wir unsere Ablehnung,
auch dann, wenn das Werk bei einem anders¬
gestimmten Publikum Beifall und Widerhall
findet. Freilich, selbst wer den Gegenstand ab¬
lehnt, kann nicht umhin, der außerordentlichen
Kunst der Schauspieler und des Regisseurs
seine Verbeugung zu machen.
Wie Hans Thimig das Leben in einem
„mondänen“ Hotel lebendig macht, auch die
einlichsten Situationen mit einem künst¬
erischen Schimmer umgibt und auch aus
breitepischen
Szenen dramatische Funken
schlägt, ist schlechthin meisterlich. Rose Strad¬
ner packt namentlich in den letzten Bildern:
erschütternde Anklage einer reinen Seele ge¬
gen eine schamlose Welt. Sehr witzig wieder
die unübertreffliche Frau Geßner und Lina
Woiwode, sehr ironisch Frau Else Basser¬
mann, rührend Lilian Skalla. Erik Frey
entwickelt sich immer persönlicher, und ein
teuer Mann, Kaspar Brandhofer, stellt
sich den Wienern vor. Ein reifer Mann, ge¬
laden mit schauspielerischer Energie auf den
ersten Anhieb so meisterlich und sicher, als
stände er schon ein halbes Leben lang auf den
Brettern. Eine große Laufbahn ist ihm sicher.
Nicht zuletzt mag den äußeren Erfolg des
Abends entschieden haben, daß Bassermann
einer kurzen Szene die ganze Wucht seiner
großen und verehrungswürdigen Persönlichkeit
schenkt.
Schr.