I, Erzählende Schriften 31, Fräulein Else, Seite 260

Hand, sondern von verschiedenen
selben
Personen herstammen.
Auch die Berliner Wohnung von Leo
Reuß wurde angerufen und man bekam
dort die Auskunft, daß Herr Leo Reut
momentan nicht anwesend sei, aber in zehn
Minuten nach Hause kommt. Dann werde
er sofort verständigt werden und Wien an¬
rufen. Im Theater glaubte man derart be¬
stimmt an Kaspar Brandhofer, daß man die
Zweifler damit widerlegte, daß man sagte,
Leo Reuß — der damals schon im Ver¬
dacht war — werde nach Wien kommen
und in der ersten Parkettreihe sitzen. Das
würde dann doch genügend Beweis sein,
daß Reuß und Brandhofer zwei verschie¬
dene Menschen sind. Der erste, der den
Verdacht aussprach, der hinter Brandhofer
L60 Reuß vermuten ließ, war merkwür¬
digerweise Direktor Dr. Beer, der schon vor
drei Wochen in diesem Sinne sprach. Aber,
da man Dr. Beers Art zu scherzen kennt,
nahm man seine Behauptung nicht sehr
ernst. Bei der Hauptprobe des „Fräulein
Else“ waren Heinrich Schnitzler und
Karlheinz Martinanwesenddie-beide
steif und fest behaupteten, Kaspar Brand¬
hofer sei mit Leo Reuß identisch. Heinrich
Schnitzler war zehn Jahre in Berlin mit
Leo Reuß am Staatstheater engagiert ge¬
wesen und auch Karlheinz Martin erkannte
Leo Reuß.
Wie vollendet die Verwandlung vor sich
ging. geht daraus hervor, daß der Friseur
des Theaters, der Brandhofer in der Garde¬
robe täglich zum Auftritt fertig machte,
dezidiert erklärte, Haar und Bart von Brand¬
hofer seien nicht gefärbt, sondern natürlich
gewachsen, denn er habe sich davon über¬
zeugt. Im Laufe dieser Erkennungsmanöver
wurde Reuß wiederholt ostentativ als „Herr
Reuß“ angesprochen, auch „Servus, Leo!“
wurde ihm oft gesagt, aber Brandhofer
wußte sein Erstaunen über diese fremde Art
der Begrüßung darzustellen und durchzu¬
halten. In solchen Fällen sah, er die Schau¬
spieler, die ihn auf diese Weise zu demaskie¬
ren versuchten, ganz verwundert an und
antwortete, er wisse nicht, was das be¬
deuten solle, so daß alle Versuche, ihm der¬
art beizukommen, scheitern mußten. Hein.
rich Schnitzler ging sogar auf die Bühne
und ließ eich Kaspar Brandhofer vorstellen.
Aber Kaspar Brandhofer wußte auch
Schnitzler gegenüber, dessen Kollege er
zehn Jahre gewesen, sein Spiel aufrechtzu¬
erhalten.
Sonderbar ist, daß auch Hermann Röb¬
beling, bei dem Leo Reuß in Hamburg
Theater spielte und Regie führte, Reuß in
der Brandhofer-Maske nicht erkannt hat.
Nachdem er die Zulassungsprüfung bestan¬
den, wurde Reuß ins Durgtheater zitiert und
sprach dort „Macbeth und „Wilhelm
Tell“ vor. Röbbeling war von seinem Ta¬
lent überzeugt, aber an eine Identität mit
Leo Reuß dachte er nicht im mindesten.
Wie es zur Entdeckung kam.
Als das Spiel zu bunt war und die Auf¬
klärung nur mehr eine Frage von Tagen
sein konnte erklärte sich Leo Reuß Hugo
Thimig; Hugo Thimig gegenüber gab er
zu, Leo Reuß zu sein und erklärte Thimig
die Beweggründe seines Tuns. Am Montag
Abend erschienen dann Hugo Thimig und
der Anwalt Kaspar Brandhofers bei Hofrat
Dr. Lothar. Leo Reuß wurde gerufen und
bekannte die Identität mit Leo Reuß, da er
seelisch nicht mehr in der Lage war, sein
Geheimnis weiter zu tragen. Er bat Hofrat
Dr Lothar. der ihm so wohlwollend ent¬
gegengekommen gar, um Verzeihung und
31. Fraeulein Else
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aus sympathisch und erfreulich wirkt, zumal

auch der Gestalt die schwüle Erotik der No¬
velle fern gehalten wird: ihre Liebe zum
jugendlichen Vetter Paul ist rein und natür¬
Theater in der Josefstadt
lich. Auffassung und Darstellung weisen ein
paar große Momente auf, so im eindrucks¬
„Fräulein Else“
vollen stummen Spiel, in der nachtwandleri¬
chen, wie im Traum befangenen Haltung der
Die „M—N N.“ schreiben: Eine peinliche
letzten Szenen und ganz besonders in der im¬
Affäre, diese Geschichte vom Fräulein Else,
mer schwerer sich entringenden Sprache des
das sich dem Altertrieb eines reichen Mannes
langsamen Sterbens. Kaspar Brandho¬
opfert, um den Vater vor Gefängnis und
fer, der den Gegenspieler Dorsday gab, ist
Schande zu bewahren! Artuc Schnitzler,
tatsächlich eine schauspielerische Entdeckung;
der sie in seiner Novelle als einen einzigen
eine starke Begabung, etwas rauh, wohl noch
lengatmigen Monolog des jungen Mädchens
nicht völlig frei und gelöst, aber voll ur¬
konstruiert hat, läßt die Begebenheiten aus
wüchsiger Kraft und Eigenart im Ausdruck
der Sphäre und den Lebensanschauungen
der Mine und Gesten.
einer bestimmten Wiener Gesellschaftsschichte
und
herauswachsen, deren Dichter er ja war
Die bedeutendste darstellerische Leistung
Die
in der allein sie vielleicht möglich sind.
verdankt der Abend wieder einmal Albert
Erzählung enthält zweifellos dramatische
Bassermann. Er hat die Figur von
Akzente und das mag Ernst Lothar zur
Elses Vater, die durch Ernst Lothar erst ins
Bühnenbearbeitung bewogen haben. Ein
Spiel eingeführt wurde, den unwahrscheinlich
rundes Dvama ist nicht daraus geworden, nur
unvorsichtigen Rechtsanwalt, der aus reinem
die fast episch anmutende Aneinanderreihung
Altruismus sich blind ins Verderben stürzt,
bewegter Bilder, aus denen die Gestalten
glaubhaft gemacht und zu einem erschüttern¬
allerdings in verschärften Umrissen hervor
Die
den Bild menschlicher Güte gestaltet.
treten. Die Atmosphäre, in der sie atmen, ist
Szene, in der das alternde Ehepaar beim
gleichwohl schlecht und stickig und Elses Fall,
Abendtisch auf den entscheidenden Auruf der
„nackt“ ins grelle Bühnenlicht gerückt, bleibt
Tochter wartet, wird durch Bassermanns
schmierig und schmutzig. Die geistige Haltung
grandioses Spiel zum Drama im Drama.
des novellistischen Originals wie die der
Genannt werden müssen noch Adrienne Ge߬
Bühnenfassung mitsamt ihrer rücksichtslos
ner, eine noble Cissy Mohr, Erik Frey
entblößenden Psychiologie sind uns im inner¬
als ihr junger Freund Paul und Else Bas¬
sten wesensfremd, Erzählung und Stück ty
ermann, eine köstlich beschränkte und er¬
pische Beispiele jener Kunst, die wir entschie¬
götlich geschwätzige Tante Emma.
den ablehnen und bekämpfen.
Die Aufführung als solche und ihre In
szenierung durch Hans Thimig ist rüh¬
menswert. Daß etwas viel mit Briefen han¬
tiert und allzuviel telephoniert wird, darf
wohl als nicht völlig verarbeiteter Rückstand
aus dem ursprünglichen Monolog angesehen
werden. Rosa Stradner verleiht ihrer.
Else einen Zug naiver Kindlichkeit, der durch¬